Gott & Glauben

Einwurf von der Seitenlinie: So ist Gottesdienst in Corona-Zeiten

Nasen-Mundschutz, Abstandsregeln, kein Singen – um Corona-Infektionen zu verhindern, wurden Gottesdienstabläufe stark verändert. Wie fühlt sich das an? Unsere Autorin Silke Kirch hat es ausprobiert.

Silke Kirch (links) mit ihrem Sohn auf dem Weg zum Sonntagsgottesdienst in der Katharinenkirche. |  Foto: Rolf Oeser
Silke Kirch (links) mit ihrem Sohn auf dem Weg zum Sonntagsgottesdienst in der Katharinenkirche. | Foto: Rolf Oeser

Nasen-Mundschutz, Abstandsregeln, kein Singen. Nun gut, es braucht Zeit, sich an neue Umstände zu gewöhnen, denke ich, als ich im ersten Gottesdienst nach dem Lockdown in der Kirche sitze. Aber in mir ist ein Aufruhr, der eine andere Sprache spricht. Denn da sitzen wir, mit Abstand aufgereiht, zueinander versetzt, auf den Punkt geordnet – statisch wie die Figuren eines Tischkickers. Ohne Chance, in die Nähe des Tores zu gelangen. Miteinander ins Spiel zu kommen. Müde gelaufen von den vielen neuen Bällen, die der Alltag uns zuspielt. So fühlt es sich an.

Nachdem über Wochen das Leben auf eng begrenztem Raum stattfand, fast ohne jede Pendelbewegung, alles auf einem Fleck – nun überhaupt wieder durch eine andere als die eigene Tür hereinkommen zu können, das berührt. Doch es ist auch ernüchternd, einen vertrauten Ort zu betreten, ohne ihn wiederzufinden, denn obwohl er sich nicht verändert hat, ist Anbindung an Gewohnheiten nur sehr eingeschränkt möglich. Begrüßung ist verhalten. Sprechen reduziert. Gesungen wird von der Schola – drei, vier SängerInnen – im Altarraum. Manchmal habe ich das Gefühl, wir bemühen uns mit aller Kraft um eine Normalität, die kaum mehr ist als ein Alibi. Ausgehöhlt und fragil.

Ich will das nicht. Am allerwenigsten möchte ich schweigen müssen, wenn ich singen will. Es erfordert ein gutes Stück Selbstbeherrschung, die vertrauten Sätze und Melodien nicht einfach mitzusingen, sich nicht mitreißen zu lassen von der tiefsitzenden Gewohnheit. Ganz bewusst den Mund zu verschließen. Sich selbst reglementieren zu müssen, nicht einstimmen zu können mit anderen, das schmerzt. Den gemeinsamen Atem, die Stimme, das Singen nicht mehr zu haben, das, was uns zueinander hintragen kann, worüber wir in Kontakt kommen könnten trotz Distanz und Einsamkeit – was Seele und Leib zum Klingen bringt und uns miteinander verbindet zu einem großen Ganzen: der Gesang im Chor. Wie sollen wir das entbehren können? Und wie soll ein Gottesdienst ohne diesen Resonanzboden Gottesdienst sein? Das ist wie ein Ball, aus dem die Luft raus ist. Game over. Und jetzt?

Die Liturgie, die vertrauten Verse, Gesänge und Worte. Wo sie berühren, entsteht neue Spannkraft und die Isolation ist durchbrochen. Es kann aber auch sein, dass die Worte diffus bleiben, vorübergehen, dass sie sang- und klanglos durch mich hindurchrauschen. Dann lasse ich sie und lasse mich in diesem Befremden. Denn ich weiß, dass ich damit nicht allein bin. Es ist so viel verloren gegangen und jede Träne, jeder Trost bleiben ein Infektionsrisiko. Da kann Hinwendung schwer fallen. Ganz allmählich vielleicht bilden sich neue Muster: Nicht singen, nicht sprechen zu können, bedeutet nicht stumm bleiben. Ich kann die Strophen, welche die Orgel zwar begleitet, aber die Schola nicht singt, mitlesen, innerlich mitsingen. Ich kann die Verse und Worte im Geiste mitsprechen. Ich kann mich erinnern an das Gefühl, wie der Körper wach, der Atem weit wird und etwas zu tragen beginnt – in mir und miteinander: eine Kraft, die viel stärker ist, als wir manchmal zu glauben imstande sind. Ein unsichtbarer Vorgang, der Geduld, Zuwendung, Schutz und Pflege braucht – und genau darum, so scheint es mir, bin ich hier.

Und dann die Momente der Stille. „Ich hätte noch so viel mehr zu sagen gehabt“, bemerkt mein Sohn nach dem Gottesdienst und meint die Stille im Fürbittengebet, die Raum für die eigenen Bitten und Gedanken lässt. Ich stimme ihm zu. Diese Stille wirkte intensiv, dicht und weit. Das gemeinsame Schweigen lässt aufhorchen, es enthält all das, was wir nicht sagen und singen können, wofür Sprache und Melodie fehlen, was Zeit braucht und nur allmählich, langsam und zögerlich in den Zusammenhang mit anderen hineinfinden kann. Dieser Zusammenhang – er entsteht lange vor dem ersten Ballwechsel, vielleicht kaum merklich, aber nur dann, wenn wir aufmerksam füreinander bleiben, so weit entfernt voneinander wir auch sein mögen.


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Dr. Silke Kirch studierte Germanistik, Kunstpädagogik und Psychologie in Frankfurt am Main und ist freie Autorin und Redakteurin.

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