Gott & Glauben

Kai Michel: „Die Bibel ist ein Tagebuch der Menschheit“

Ist die Bibel nur voller Erzählungen und Legenden oder tatsächlich auch von historischem Interesse? Der Historiker und Autor Kai Michel erklärt, was Altes und Neues Testament über die Evolution verraten.

Die Bibel, ein Tagebuch der Menschheit  |
Die Bibel, ein Tagebuch der Menschheit | Bild: http://www.colourbox.de

Die Bibel ist ein Buch voller Geschichten. Voller wichtiger Geschichten. Darüber sind sich nicht nur Theologinnen und Theologen, sondern auch Literaturwissenschaftlerinnen und Literaturwissenschaftler einig – auch die atheistischen.

Aber ist die Bibel auch ein Dokument, das historisch interessant ist? Womöglich geradezu so etwas wie ein Geschichtsbuch der Menschheit? Oder dürfen so etwas nur hartgesottene Kreationisten sagen, die den Schöpfungsmythos über die Biologie stellen?

Keineswegs. Kai Michel jedenfalls ist kein Kreationist, er ist noch nicht einmal religiös aufgewachsen, wie er zu Beginn seines Vortrags „Was die Bibel über die Evolution verrät“ im Frankfurter Bibelhaus berichtet.

Vor einer petrolblauen Wand und einem hölzernen Schiff, das zur Ausstellung über das Leben am See Genezareth gehört, steht Kai Michel und erzählt von den prekären Verhältnissen, in denen die Menschen zu biblischen Zeiten lebten. Der Historiker und Journalist hat gemeinsam mit dem Anthropologen Carel van Schaik den Bestseller „Das Tagebuch der Menschheit“ geschrieben. Der 49-jährige gebürtige Hamburger war unter anderem Wissenschaftsredakteur bei der Wochen­zeitung Die Zeit.

Die Schöpfungsgeschichte berichtet von den Problemen des Sesshaftwerdens

„Der Ausgangspunkt unserer Expedition durch die Bibel war, dass wir aus evolutionsgeschichtlicher Perspektive ein Déjà-vu hatten. Die Grundaussage, mit der die Bibel beginnt, kam uns vertraut vor: Die Menschen waren für den Garten Eden gemacht, mussten aber jenseits von Eden unter ganz anderen, und zwar ziemlich prekären Umständen leben“, sagt er.  „Und das ist ja tatsächlich das Schicksal des Homo Sapiens. Die fünf Bücher Mose, allen voran die Genesis am Anfang, schildern ja gerade jene Probleme, die mit dem Sesshaftwerden in die Welt getreten sind.“

„Das Tagebuch der Menschheit“ stützt sich auf Kognitionswissenschaft und Evolutionsbiologie, Religionswissenschaft und Archäologie und führt vom Garten Eden über den Exodus aus Ägypten bis nach Golgatha und zur Apokalypse. „Die Bibel, gelesen als ein Tagebuch der Menschheit, geht uns alle an – selbst dann, wenn wir nicht an Gott glauben“, ist sich Michel sicher.

Lese man die Bibel nicht als Wort Gottes, sondern als Zeugnis der kulturellen Evolution des Homo sapiens, lösten sich erstaunlich viele ihrer Rätsel und Widersprüche auf, sagt Kai Michel.

Die Bibel ist ein „Work in Progress“, keine Schrift aus einem Guss

Vielen Gläubigen bereiteten ja die zahlreichen Katastrophen der Bibel Schwierigkeiten: Gott hat die Menschen gerade erschaffen und seine Schöpfung selbstbewusst als „sehr gut“ bezeichnet – und gleich geht es so sehr schief, dass er seine Geschöpfe nicht nur aus dem Paradies vertreibt, sondern sie auch bald fast alle in einer Sintflut ertränkt. Eigentlich sei das eine Bankrotterklärung, die sich nur mit einigem theologischen Geschick erklären lasse, so Kai Michel.

Aber eben nur scheinbar. Die Bibel sei eben Work in Progress, keine ideale Schrift aus einem Guss. „Das beruht auf einem Missverständnis. Die Bibel ist nicht das Wort Gottes. Ihr erster Satz lautet nicht: Am Anfang schuf ICH Himmel und Erde.“ Altes und Neues Testament seien das Werk zahlreicher Autoren, die sich auch selbst die Welt erklärten. Und die sei nun mal unberechenbar für die Menschen.

„Chaotisch zusammengestoppelt ist die Bibel nicht, und das Widersprüchliche zeichnet nun mal ein Tagebuch aus. Denn warum schreibt man Tagebuch? Weil man versucht sich selbst und die Welt zu verstehen – weil man ergründen möchte, was das Leben so schwierig macht und wie es zu meistern ist. Die Antworten, die man zu finden glaubt, können sich von Tag zu Tag verändern.“

Weitere Vorträge in der Reihe

Die Vortragsreihe „Sola Scriptura?“ des Frankfurter Bibelhauses, Metzlerstraße 19,  nimmt im Jahr des 500. Reformationsjubiläums Fragen der kritischen Forschung zur Bibel auf. Ausgangspunkt ist der reformatorische Leitsatz Martin Luthers „Sola Scriptura – allein die Schrift“. Den nächsten Vortrag in der Reihe hält Professor Dr. Reinhard G. Kratz am Montag, 30. März, zu den Funden von Qumran und der Hebräischen Bibel. „Israels vergessene Kinder“ lautet der Vortrag von Dr. Benedikt Hensel zu den Samaritanern in alttestamentlicher Zeit am Dienstag, 13. Juni, im Bibelhaus. Beide Vorträge beginnen um 19.30 Uhr.


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Anne Lemhöfer 145 Artikel

Anne Lemhöfer interessiert sich als Journalistin und Autorin vor allem für die Themen Kultur, Freizeit und Gesellschaft: www.annelemhoefer.de