„Christinnen in Südkorea solidarisieren sich schon seit langem mit den Armen“
Frau Hur, in Ihrem Buch „Den Namen der Mutter erben. Interkulturelle Theologie, weibliche Subjektivität und Kunst“ beziehen Sie sich auf die südkoreanische Minjung-Theologie. Was ist das?
Die Minjung-Theologie entstand in den 1970er Jahren in Südkorea als kontextuelle Theologie, also als Theologie, die Antworten gibt auf bestimmte Lebenssituationen und zeitgeschichtliche Entwicklungen. Progressive Theologinnen und Theologinnen reagierten damit auf die Not der „Masse des einfachen Volkes“, so könnte man das koreanische Wort „Minjung“ übersetzen, also diejenigen, „die politisch unterdrückt, wirtschaftlich ausgebeutet, soziologisch entfremdet und in kultureller und intellektueller Hinsicht ungebildet gehalten werden“, wie es der Soziologe Han Wan-Sang definierte. Als die Minjung-Theologie in Südkorea unter politischem Druck geriet, haben Kirchen aus Deutschland sie weiterhin finanziell unterstützt, vor allem aufgrund der guten Beziehungen zu dem evangelischen Theologen Ahn Byung-Mu (1922-1996), einem der Begründer der Minjung-Theologie.
Sie haben sich besonders mit der Situation von Heiratsmigrantinnen in Südkorea beschäftigt. Was für Frauen sind das und welche Probleme haben?
Südkoreanische christliche Frauen solidarisieren sich schon lange mit den Unterdrückten, in den 1960er Jahren standen die Arbeiterinnen im Fokus, seit den 1970er Jahren die Opfer sexueller Gewalt, seit den 1990er Jahren sind es die Migrantinnen. Seit 2004 wurde in Südkorea jede zehnte Ehe mit einem Partner/einer Partnerin aus dem Ausland geschlossen, in drei von vier Fällen ist die Heiratsmigrantin eine Frau. Der Grund ist, dass viele alleinstehende Männer in Südkorea schwer eine Frau finden. Vor allem verarmte Landbauern und städtische Arbeiter suchen sich dann eine Frau im Ausland, hauptsächlich aus Vietnam, China, den Philippinen und so weiter. Es gibt natürlich auch glückliche internationale Paare, aber viele Frauen leiden unter Ausbeutung und unterdrückerischen Strukturen in ihren neuen Familien.
Wie unterscheidet sich die Minjung-Theologie von der lateinamerikanischen Befreiungstheologie?
Die Befreiungstheologie in Lateinamerika hat südkoreanische Theolog*innen mit ihrem Engagement für die Armen und Unterdrückten stark inspiriert. Aber es gibt auch Unterschiede. Befreiungstheologen in Lateinamerika haben die Lebensprobleme der Unterdrückten kennengelernt, indem sie mit ihnen in kirchlichen Basisgemeinschaften zusammenlebten. Die Minjung-Theologen in Südkorea hingegen begegneten den Unterdrückten eher im Rahmen einer politischen, sozialen und kulturellen Bewegung. Der Aufschrei kam dort nicht aus dem Inneren der christlichen Gemeinschaften heraus. Wichtig war der Bezug auf Jesus Christus, der sich laut Matthäusevangelium (Kapitel 25, 31-46) mit den Unterdrückten identifiziert. Man kann eine Theologie, die aus einem bestimmten Kontext hervorgegangen ist, sowieso nicht einfach auf einen anderen Kontext übertragen. Jede Situation muss mit ihren Besonderheiten kritisch und sorgfältig betrachtet werden.
Sie legen einen Schwerpunkt auf die Verbindung von Kunst und Theologie, warum?
Darauf hat mich mein Doktorvater Professor Volker Küster gebracht. Als Spezialist für christliche Kunst und Theologien in der Dritten Welt hat er mich ermutigt, Kunstmuseen zu besuchen und einen Dialog zwischen Kunst und Theologie zu führen. Kunst war eigentlich gar nicht mein Fachgebiet, ich hatte sogar Vorbehalte dagegen, weil sie mir als Luxus erschien, als etwas für Wohlhabende. Aber die Begegnung mit der Kunst hat mir neue Perspektiven eröffnet. Der Dialog zwischen Kunst und Theologie kann zu mehr kritischem Verständnis und mehr Engagement für soziale Anliegen verhelfen. Wenn sich zum Beispiel Romane oder Filme mit den Problemen von Heiratsmigrantinnen befassen, spricht das nicht nur das Wissen, sondern auch die Emotionen an.
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