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Pfarrer Holger Wilhelm schrieb ein Buch über die Geschichte der Migration nach Frankfurt

Holger Wilhelm, Pfarrer in der Gemeinde Hausen, hat ein Buch über die Geschichte der Einwanderung nach Frankfurt geschrieben. Er erzählt die Geschichte von den spanischen Niederländern im 16. Jahrhundert über italienische Händler im 17. Jahrhundert bis zur Industrialisierung im 19. Jahrhundert. Antje Schrupp hat ihn befragt. 

Pfarrer Holger Wilhelm aus Hausen hat ein Buch über die Geschichte der Migration in Frankfurt geschrieben. Foto: Rolf Oeser
Pfarrer Holger Wilhelm aus Hausen hat ein Buch über die Geschichte der Migration in Frankfurt geschrieben. Foto: Rolf Oeser

Herr Wilhelm, woher kamen die größten Einwanderungswellen in der Geschichte Frankfurts?

Im Blick auf mein Buch, das einen Zeitraum von den Gründungszeiten Frankfurts bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts in den Blick nimmt, stammte die auffälligste Einwanderungswelle aus den so genannten „spanischen Niederlanden“. Das war der südliche Teil der Niederlande, der im 16. Jahrhundert an die katholischen Habsburger auf der spanischen Krone gefallen war. Die Reformationszeit hatte schon begonnen, und die meisten der wallonischen und flämischen Niederländer waren Protestanten. Sie wurden von den neuen katholischen Herrn bedrängt, schließlich auch mit Gewalt vertrieben. Seit 1554 siedelten sich diese Flüchtlinge in Frankfurt an. Sie sprachen Französisch und Niederländisch, waren meist reformierten Glaubens („Calvinisten“) – und nicht wenige von ihnen waren sehr reich. Um 1600 stellten sie ein Viertel der Stadtbevölkerung.

Daneben können wir in der Tiefe der Geschichte andere Einwanderungswellen nicht so genau fassen. In der Völkerwanderungszeit und frühen Fränkischen Besiedlung gab es sicher auch große Umwälzungen. Und der Zuzug von Arbeitskräften in der Industrialisierung ab der Mitte des 19. Jahrhunderts stellte ohnehin alles bis dahin Gekannte auf den Kopf. Allerdings gab es da nicht so viele fremdsprachige Zuzüge wie in der Zeit der niederländischen Flüchtlinge.

Inwiefern hat die Stadt von den Neuankömmlingen profitiert?

Die niederländischen Flüchtlinge brachten viel Geld, eine Menge neues wirtschaftliches Knowhow und gut ausgebildete Fachkräfte nach Frankfurt. Dazu blühten durch sie eine Zeit lang die Künste in Frankfurt wie sonst kaum, besonders in der Malerei. Die Stadtkasse war nach ziemlichen Pleiten wieder gefüllt – und bei der Begründung der Frankfurter Börse spielten die Niederländer eine entscheidende Rolle. Die Einwanderungswelle brachte aber auch Preissteigerungen, Wohnraumverknappung und bittere Verteilungskonflikte mit sich. Erst Jahrhunderte später waren die Niederländer reformierten Glaubens voll anerkannte Mitglieder der Stadtgesellschaft, die sich auch im Stiftungs- und Mäzenatentum intensiv einbrachten.

Was kann man gegen die Angst vieler Alteingesessener vor zu viel Fremden tun?

Die Einwanderungswelle der Niederländer ist ja nur ein Beispiel von vielen – wenn auch geschichtlich gesehen neben unseren modernen Zuwanderungserfahrungen das beeindruckendste. Die religiösen und wirtschaftlichen Konflikte damals waren immens. Aber von Anfang an brachten die Fremden auch Prosperität und Innovation – beides war für die Stadt enorm wichtig gewesen und wirkt bis heute nach. Der Angst vor Überfremdung, die es damals erstaunlich deutlich genauso gab wie heute, kann man nur eine Art historische Gelassenheit entgegensetzen: Die Geschichte zeigt, dass Zuwanderung immer Vor- und Nachteile hat. Sie ist nicht nur gut oder schlecht, sondern genauso „durchwachsen“ in ihrer Auswirkung, wie wenn sich nichts veränderte. Das tut einer Stadt auch nicht gut.

Trotzdem müssen wir die vorhandenen Ängste heute genauso wichtig nehmen, wie sie damals genommen wurde. Sie füllten bücherweise Ratsprotokolle. Über die Auseinandersetzungen klärten sich Dinge, wenn auch manchmal nur sehr langsam. Und was früher einmal verpöntes Beispiel für den Protz der niederländischen Einwanderer war – ich denke hier an das Haus zur Goldenen Waage von 1619 am Dom – ist nicht erst seit dem begonnenen Wiederaufbau im Dom-Römer-Projekt hoch gehandeltes Beispiel eigener Frankfurter Identität geworden. So ändern sich die Sicht- und Erlebnisweisen. Wer wird denn heute noch darüber spötteln wollen, dass etwa Mitglieder italienischer Einwandererfamilien wie der berühmten Brentanos noch in der dritten Generation nicht richtig Deutsch sprechen konnten? Noch eine Generation weiter zählten andere Nachkommen wie Clemens Brentano und Bettina von Arnim zu den bedeutendsten Romantikern Deutschlands.

Holger Wilhelm: Gegen die Angst ‚dass die Gäst den Wirt vertreiben‘. Zuwanderung und Fremde in der Stadtgeschichte von Frankfurt am Main“, 168 Seiten, viele Abbildungen, 25 Euro zzgl. Porto, zu bestellen unter Telefon 069 21651319 oder per Mail an karin.schlicht@ervffm.deMehr Details zum Inhalt.


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Antje Schrupp 235 Artikel

Dr. Antje Schrupp ist Chefredakteurin des EFO-Magazins. Die Journalistin und Politikwissenschaftlerin bloggt auch unter www.antjeschrupp.com Mastodon: @antjeschrupp@kirche.social