Thomas Adam erzählt vom Leben der Obdachlosen im Hauptbahnhof
Auf einer der Steinbänke, die den Platz vor der Alten Oper begrenzen, sitzt fast regungslos ein Mensch mit pastellfarbenen Plastiktüten, als ich meinen Weg zum Hauptbahnhof nehme. Es ist Herbst, der Himmel verhalten optimistisch, das Gras in der Taunusanlage zeigt noch die Spuren derer, die hier die Nacht verbracht haben.
Wo einst der Hauptumschlagplatz für Drogendealer und Drogenabhängige war, flanieren heute wohlsituierte Bürgerinnen und Bürger. Die Stadt hat die Drogenszene von der Straße geholt, und Obdachlose sind im Bahnhofsviertel bestenfalls geduldet. Dabei nimmt die Zahl der Obdachlosen deutschlandweit stetig zu. Auch in Frankfurt.
„Du wirst immer geschubst und getreten“, erinnert sich Thomas Adam an die Zeit, als er selber „Platte gemacht“ hat. Wer obdachlos ist, müsse unauffällig sein, sonst werde er schnell mal im Vorbeigehen geschlagen, bedroht oder angepinkelt. Vor allem nachts. Des Tags machen die meisten einen großen Bogen um jene, die „anrüchig“ geworden sind. Man verscheucht sie: Wer obdachlos ist, hat nicht nur keine eigene Bleibe, sondern darf auch nirgends bleiben. Er ist schutzlos und, schlimmer noch, kann für sein Bedürfnis nach Schutz und Hilfe nicht selbst einstehen.
Deshalb unterscheidet Thomas Adam zwischen Wohnsitzlosen und Obdachlosen: Wohnsitzlose haben zwar keine Wohnung, sie können aber auf eine breite Palette von Hilfsangeboten zurückgreifen: Notübernachtungen, soziale Unterstützung, Übergangslösungen. Obdachlose hingegen können nicht anders als auf der Straße leben. Entweder, weil sie psychisch oder aus anderen persönlichen Gründen nicht in der Lage sind, sich Hilfe zu holen. Oder, wie derzeit viele Menschen, die aus Osteuropas Armenvierteln ins reiche Frankfurt kommen, weil sie gar keinen Anspruch auf die Hilfen des deutschen Sozialstaats haben.
Wer obdachlos ist, kann also nicht anders als auf der Straße leben. Obdachlose sind unentwegt in Bewegung, ohne Anspruch auf einen eigenen Raum. Sie sind nicht unsichtbar, aber ohne Ansehen. Der einzige Raum, der ihnen gewährt wird, ist gleichbedeutend mit Isolation und Scham: „In der Straßenbahn“, sagt Thomas Adam, „hatte ich immer einen Viererplatz für mich alleine.“ Abstoßung vergrößert den Abstand – und die Not.
Thomas Adam selbst hat lange Zeit keine Hilfe gewollt, sie nicht wollen können. Bei ihm war es der Alkohol, bei anderen sind es Drogen-, Tabletten- oder Spielsucht – Suchterkrankungen, die häufig zum Verlust des Arbeitsplatzes, dann zum Verlust der Wohnung führen. Der Weg zurück ist lang, alles muss neu gelernt werden: Essen, Reden, Schlafen, Vertrauen, Selbstfürsorge, Wohnen, Arbeit, Liebe. Die Angst vor einem Rückfall, vor erneuter Verwahrlosung bleibt.
Während der Führung durch den Hauptbahnhof und das Bahnhofsviertel erfahren wir, wie ein Mensch auf der Straße überleben kann. Hier ist jeder auf sich gestellt, Vertrauen, sagt Thomas Adam, sei fehl am Platz. Obdachlose hätten keine Freunde, nicht einmal untereinander. Jeder sei sich selbst der Nächste; jeder wisse, dass er den, der ihn heute einlädt, morgen übers Ohr hauen kann.
Aber er habe auch gute Erfahrungen gemacht: In einem 24-Stunden-Pornokino konnte er für nur 5 Mark schlafen, im letzten Zug auf Gleis 23 konnte man in der Nacht kurz ruhen, ohne verpfiffen zu werden, in den alten Zugabteilen, deren Sitze sich zu einem großen Bett zusammenschieben ließen, in denen es Vorhänge gab: ein Traum für einen, der bequeme Liegeplätze und Geborgenheit nicht kennt. In den Sand-Aschenbechern, die es früher am Bahnhof gab, fand man immer halb gerauchte Kippen von eiligen Reisenden. In den Hallen der Post ließ es sich zuweilen unauffällig in bequemen Sesseln rasten. Im Aufenthaltsraum, der während der Schließzeiten des Bahnhofs Wärme bot, konnte man bleiben sofern man ein Bahnticket hatte – und das bekam man, indem man sich eines kaufte und dann später erstatten ließ.
Aber alle diese Orte gibt es nicht mehr, die Tricks und Finten, die früher mal das Überleben sicherten, sind Geschichten aus der Vergangenheit: Man kann keine Münzen aus Fernsprechern mehr klauen oder Tagesgeld bei den Sozialämtern in Frankfurt und den umliegenden Orten „abfischen“.
Was es nach wie vor gibt, ist professionelle Hilfe, zum Beispiel die Tagesstätte „Weser 5“ der Diakonie Frankfurt im Untergeschoss der Weißfrauen Diakoniekirche in der Gutleutstraße. Dort finden Obdachlose unbürokratisch Hilfe und Unterstützung, auch die ohne formale Ansprüche an den deutschen Sozialstaat. Und manche finden dann vielleicht längerfristig ihren Weg von der Straße in ein Haus.