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Leben auf dem Rummel: Ein Besuch hinter den Kulissen der Dippemess

Zweimal im Jahr kommt die Dippemess nach Frankfurt. Vor der Eissporthalle werden dann nicht nur Karussells und Buden aufgebaut, sondern auch Wohnwagen für die Menschen, die hier arbeiten. Wie lebt es sich mitten auf dem Rummel? Ein Besuch hinter den Kulissen.

Foto: Ilona Surrey
Foto: Ilona Surrey

Noch bevor uns der Geruch von Popcorn, Pfannkuchen und Schokomandeln in den Bann zieht, ist die Dippemess zu hören. Ein Puls aus Musik, Hupen, Klingeln und den Ansagen der Fahrgeschäfte – ein Beat, der uns in Vibration versetzt, je näher wir kommen. Wer hier wohnt, inmitten der Geschäfte den Wohnwagen aufgebaut hat, kennt kaum eine ruhige Minute.

Ich trete ein in das geräumige mobile Domizil der Familie Schütze, mitten im Rummel, der die Gehäuse in Schwingung versetzt. „In der Winterunterkunft“, verrät mir Marylin Schütze, „werden schon mal Staubsauger und Radio angestellt, damit die Kinder schlafen können.“  Innere Ruhe kann ganz unterschiedliche Umweltbedingungen zur Voraussetzung haben.

Gerade hat Schütze zusammen mit ihrem Mann die Bewerbungen für ihre Geisterbahn geschrieben. Da stecken sie viel Engagement rein, denn die Konkurrenz ist groß. Nicht selten bewerben sich dreimal so viele Geschäfte wie Plätze vorhanden sind. Erst kurzfristig wird klar, wann die Familie in welcher Stadt Station machen wird. Die einzige Zeit im Jahr, die planbar ist, ist die zweimonatige Pause im Januar und Februar: Dann wohnen die Schützes bei den Eltern im Haus, im Winterquartier.

„Ein Schausteller fühlt sich in seinem Wohnwagen geborgen“

Den Kindern war das Leben in einem Haus immer unheimlich, erzählt Marylin Schütze, so viele Türen und dann auch noch ein Keller. „Ein Schausteller fühlt sich in seinem Wohnwagen geborgen“, pflichtet ihr Mann bei. Etwas mehr als zwölf Meter misst das Domizil der Familie Schütze. Es hat zu beiden Seiten ausfahrbare Erker, sodass die Räume etwas breiter sind als die zulässigen 2,5 Meter. Schlafzimmer, Wohnzimmer, Küche, Arbeitsraum und Bad – es ist alles da. Herr Schütze macht sich auf den Weg zur Näherin, um einen Stapel Hosen kürzen zu lassen. Die Kunst ist, einfach mal abzuschalten, denn Freizeit gibt es eigentlich nicht.

Es gibt keine Normalität ohne gewachsene Gewohnheit. Das Wichtigste in der Kindheit, erzählt die 20-jährige Tochter Charlene, waren die Hausaufgaben. Danach durften sie raus, was eben auch früh schon hieß, den Eltern im Geschäft zu helfen. Lernen bei diesem Lärm? „Es geht nur bei diesem Lärm“, sagt sie.

Sie selbst hat sich nach einem sehr guten Realschulabschluss nichts anderes gewünscht als ein eigenes Geschäft als Schaustellerin. Seit drei Jahren hat sie nun einen eigenen Wagen und verkauft Eierpfannkuchen – nicht die üblichen Crêpes. Das Geschäft läuft noch über die Eltern, aber irgendwann will sie es selbst übernehmen.

Es sei nicht unbedingt üblich, dass Kinder ein separates Geschäft beginnen, viele würden einfach bei ihren Eltern mitarbeiten. Aber es werde immer schwieriger, den eigenen Lebensunterhalt auf diese Weise zu verdienen. Manche arbeiten deshalb auch in der Winterpause, etwa als LKW-Fahrer oder Aushilfe. Auch Charlene hat Sorgen, dass sie eines Tages gezwungen sein könnte, ihren Beruf aufzugeben, weil es sich einfach nicht mehr rentiert. Das hat sie im Umkreis schon mehrfach erlebt.

Aber fast alle, die auf Jahrmärkten aufgewachsen sind, wollen nicht mehr weg, können sich ein anderes Leben kaum vorstellen. Eine Ausbildung zu machen ist nicht unbedingt üblich. Schon den Schulbesuch zu gewährleisten, ist für die Eltern eine immense Herausforderung und häufig mit vielen Fahrdiensten verbunden. Ein Berufsschulbesuch ist für die Familien schwierig in den Arbeitsalltag zu integrieren.

Ein wenig mag auch die Angst mitspielen, dass Kinder, die einmal in die Lehre gegangen sind, mit der Familientradition brechen könnten. „Bei uns ist alles noch etwas traditioneller“, sagt Marylin Schütze.

Eine Lehre aber, so Schausteller-Pfarrerin Christine Beutler-Lotz, könne auch im Schausteller-Leben sehr hilfreich sein, zum Beispiel in Krisensituationen für ein besseres Einkommen sorgen als ein Job als Hilfsarbeiter. Gerade hat sie in ihrem Gemeindebrief von einem jungen Mann berichtet, der eine Ausbildung zum Metallbauer gemacht hat. Sie möchte Anreize geben, den Horizont zu öffnen, möchte Mut zur Ausbildung machen: Wer eine Lehre gemacht hat, könne etwa später auch im Schausteller-Verbund eine leitende Funktion übernehmen. Konkrete Lebenshilfe, das ist ihr Thema.

„Reisende Kinder“ besuchen mitunter jede Woche eine andere Schule

„Reisende Kinder“ werden die Schülerinnen und Schüler genannt, die mitunter jede Woche an einem anderen Ort die Schule besuchen – je nachdem, auf welcher Kirmes oder Kirchweih die Eltern gerade zu Gast sind. Mit einem sogenannten „Schulbesuchsheft“ oder „Reisetagebuch“ stehen sie morgens beim Direktor der neuen Schule, lassen sich eine Klasse zuweisen und die Teilnahme am Unterricht bestätigen.

Dabei, so erinnert sich Margarete Oppel, habe sie sich zuweilen schon recht einsam gefühlt, denn nur selten konnte ihre Mutter sie begleiten. Mit den anderen Kindern in Kontakt zu kommen, sei hingegen kein Problem gewesen, und an manchen Orten hatte sie Klassen, in die sie über die Jahre immer wieder zurückkehren konnte. „Man hat dann eben nicht nur ein Klassentreffen, sondern viele“, sagt sie.

Frau Oppel ist heute eine schick gekleidete ältere Dame, die einen Hut mit Schleier trägt. Ihr Schausteller-Geschäft mit Süßwaren hat sie aus gesundheitlichen Gründen aufgeben müssen, dennoch kommt sie regelmäßig zu den Treffen der Frauengruppe des Schausteller-Geselligkeitsvereins Mainperlen Frankfurt. Man kennt sich, trifft sich mehrmals im Jahr und unternimmt allerlei gemeinsam – eine Reise nach Barcelona beispielsweise oder auch Ausflüge in die nähere Umgebung.

Heute haben sich etwa zwanzig Frauen unterschiedlichen Alters um die bunt gedeckten Kaffeetische mitten auf der Dippemess versammelt, alles Unternehmerinnen. Nicht der Zufall hat sie zusammengewürfelt, wenngleich sie alle ständig reisen und selten zur gleichen Zeit am gleichen Ort sind. Es gibt hier eine über lange Jahre gewachsene Verbundenheit: Man hält zusammen, hilft sich gegenseitig, unterstützt sich und kooperiert. Frau Oppel hat gestern, an ihrem 25. Hochzeitstag, kirchlich geheiratet, und darauf wird heute angestoßen.

Die Zeit hält nicht an. Ein Schausteller kann sein Geschäft nicht vorübergehend schließen – weder für eine Hochzeit noch für einen Todesfall. Es muss immer weitergehen, damit das Auskommen reicht, damit die Kirmes läuft, damit die Verträge eingehalten werden. Deshalb finden Hochzeiten, Taufen oder Konfirmationen im Schaustellerleben meist direkt auf dem Jahrmarkt statt. Eine Taufe am Karussell, eine Konfirmation beim Autoscootergottesdienst – das ist für die Schausteller-Pfarrerin Christine Beutler-Lotz nichts Ungewöhnliches, Vielmehr: Es ist für alle völlig normal.

Das scheinbar Improvisierte bildet wahre Substanz, sagt die Pfarrerin

Genauso wie der „Mitternachtsgottesdienst“ im Zelt, der am frühen Morgen beginnt – wenn die Arbeit getan ist. Das scheinbar Improvisierte, Unstete, bilde wahre Substanz, findet die Pfarrerin. Man braucht keine Kirche und keine aufwändige Liturgie, um einen Gottesdienst zu feiern: „Gemeinde ist da, wo Menschen sind.“ Platz für das gemeinsame Gebet, etwa nach einem Todesfall, ist auch in einer Kneipe. Ganz beseelt erzählt Marylin Schütz davon, wie gut sie sich in dieser Situation an der Seite der Pfarrerin aufgehoben gefühlt hat. Das mag für die Außenstehenden merkwürdig sein, für die Menschen am Platz ist es so gut und richtig. Nicht der Ort ist das Entscheidende, sondern die tragende Beziehung. Das Leben fragt nicht nach dem richtigen Zeitpunkt.

Eines der zentralen Anliegen der Schaustellerseelsorge von Christine Beutler-Lotz ist es deshalb, unkompliziert erreichbar und ansprechbar zu sein. Die Menschen, so sagt sie, hätten ihr Problem doch nicht dienstags zwischen 17 und 18 Uhr, wenn der Pfarrer Sprechstunde hat, sondern hier und jetzt. Ganz praktische Lebenshilfe leistet sie, ist ansprechbar für alle Fragen – von Schulproblemen bis zum Ehekrach – per Anruf, per Mail, per Whats-App oder über Facebook. Dort hat die fahrende Gemeinde, ein virtuelles Gemeindehaus, das rege genutzt wird. Die Pfarrerin hört zu, kommt vorbei, vermittelt und hakt nach.

Die neuen sozialen Medien sind hierfür, so findet sie, eine segensreiche Erfindung. Mehr als tausend Gemeindemitglieder sind in ihrer Facebook-Gruppe „Fahrende Gemeinde“ aktiv, die nicht nur der Ankündigung von Autoscootergottesdiensten dient, sondern auch der Andacht und dem Gebet. Niemand scheut sich, hier ein „Amen“ zu posten, wenn für einen Verstorbenen gebetet wird – denn auch das gehört zum Leben: Nicht allein aus Kostengründen reisen Alte, Kranke und Pflegebedürftige weiter mit. In den Ruhestand gehen die wenigsten, weil sie es sich nicht leisten können, oder weil sie mitten drin bleiben möchten.

Die Pfarrerin erzählt von Familien, die die pflegebedürftigen hochbetagten Eltern im Campingwagen überall hin mitgenommen haben. Pflege im Campingwagen – für Pflegedienstleistende ein Ding der Unmöglichkeit, für Schausteller eine nahe liegende Möglichkeit. Manch einer stirbt auf dem Platz, auf dem er geboren wurde.

Die Pfarrerin ist selbst als Schaustellerkind aufgewachsen

Beeinander bleiben, Beistand leisten, darum geht es. Und das geht am besten am Stand, mitten im Geschäft. Ein anderer Rahmen würde da nur verunsichern – ein Pfarrbüro mit Bücherwänden gar – eine abwegige Vorstellung. Christine Beutler-Lotz ist selbst als Schaustellerkind aufgewachsen. An keinem anderen Ort möchte sie ihren Beruf ausüben, mit keiner anderen Gemeinde möchte sie tauschen. „Wann haben Sie Kontakt mit der Pfarrerin ihrer Gemeinde?“ fragt sie mich. Jeder kennt und grüßt sie, wenn wir hier über den Platz laufen, die Menschen begegnen ihr mit großer Wertschätzung. Ganz einfach, weil sie da ist, und sich so in Anspruch nehmen lässt, wie sie gebraucht wird. Da geraten auch die jungen Leute hemmungslos ins Schwärmen. Es geht um Lebenshilfe und den persönlichen Kontakt – und um die richtigen Ideen.

Charlene wünscht sich, dass wieder mehr Familien die Angebote der Schausteller wahrnehmen. „Die Menschen machen sich keine Vorstellungen von den Kosten“, sagt sie. Ein Geschäft zu bauen, ist eine immense Investition, dann muss in Standmiete, Stromversorgung und Sprit investiert werden.

Das Publikum, so erlebt sie es, sei zunehmend aggressiv. Es habe in den vergangenen Jahren immer wieder Schlägereien gegeben, weil die Menschen die Schließungszeiten nicht akzeptieren wollen, dabei seien auch Geschäfte demoliert worden. Charlene wünscht sich, dass es wieder ruhiger wird, bedroht fühlt sie sich allerdings nicht. Die Polizei biete guten Kontakt und sei im Zweifelsfall schnell zur Stelle. Sie holt ein kleines Kreuz aus ihrem Wagen, das sie bei der Einweihung ihres Geschäfts erhalten hat.

Das fahrende Volk ist nicht heimatlos. Ganz im Gegenteil.

„Gott reist mit“ sagt Marylin Schütze und zitiert damit den Titel eines für sie wichtigen Buches, das sie im Schrank ihres Wohnzimmers verstaut hat. Fast jeder, der ein neues Geschäft gründet, bittet Pfarrerin Beutler-Lotz darum, es einzuweihen oder fragt für einen neuen Wohnwagen nach Gottes Segen. Das gehört hier einfach dazu und ist weitaus mehr als Konvention. Glaube ist Heimat, Glaube stiftet Gemeinschaft. Der Zusammenhalt ist für das Überleben notwendig. Religion hat ihre Wohnstätte mitten im Rummel und zieht mit.

Das fahrende Volk ist alles andere als heimatlos. Ganz im Gegenteil, sie bieten eine Heimstätte für manchen, der im Getriebe der Städte schon fast verloren gegangen ist. Einem Schausteller das Herz auszuschütten, so Christine Beutler-Lotz, das könne für manchen Menschen zu einem konstanten, stabilisierenden Faktor werden: Manch einer komme immer wieder, um ein Ohr für seine Lebensgeschichte zu finden, und sie immer weiter zu erzählen – Dippemess für Dippemess. Gerade die Tatsache, dass der, dem ich mich anvertraue, weiterzieht, könne Menschen enorm entlasten.

Auch Andrea Eiserloh weiß davon zu berichten. An ihrem Süßwarenstand verkauft sie Magenbrot, Zuckerwatte und gebrannte Mandeln. Es gebe immer welche, die Anbindung suchen, kleine Botengänge erledigen, für die sie selbst keine Zeit hat – eine Zeitung holen und hier und da aushelfen. Häufig seien das Menschen aus dem betreuten Wohnen oder auch Obdachlose – die wüssten genau, wann welcher Schausteller wo ist. Gerade das Kommen und Gehen, der Rhythmus des Wechsels, scheint Sicherheit zu bieten und Mut zu machen. Wiederkommen zu können und willkommen zu sein, das ist eine Erfahrung, die sich jedem, der hier vorübergeht und sich ein klein wenig einlässt, freundlich und unaufdringlich mitteilt.


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Silke Kirch 55 Artikel

Dr. Silke Kirch studierte Germanistik, Kunstpädagogik und Psychologie in Frankfurt am Main und ist freie Autorin und Redakteurin.