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„Ich weiß nicht, was vor mir liegt, vielleicht ist das gut so“

Einer von rund 10.000 jüdischen Menschen, die im Nationalsozialismus von der Frankfurter Großmarkthalle aus deportiert wurden, war Ernst Ludwig Oswalt. Der Neunzehnjährige, ein lebenslustiger junger Mann und Jungscharleiter in der evangelischen Petersgemeinde, starb 1942 in einem Konzentrationslager. Ein Dokumentarfilm erzählt jetzt seine Geschichte.

Ernst Ludwig Oswalt war Mitglied der Petersgemeinde. 1942 wurde er von den Nazis aus Frankfurt deportiert und ermordet.
Ernst Ludwig Oswalt war Mitglied der Petersgemeinde. 1942 wurde er von den Nazis aus Frankfurt deportiert und ermordet.

Spätabends im Juni 1942, als er von der Zwangsarbeit in einer Fabrik zurückkam, fand Ernst Ludwig Oswalt im Briefkasten die lapidare Notiz: In drei Tagen müsse er bereit sein, Frankfurt zu verlassen. Dass es früher oder später auch ihn treffen würde, war ihm bereits klar gewesen. Wie die Reise enden sollte, das ahnte er aber offenbar nicht.

„Ich bin getrost und guten Mutes“, versichert Oswalt noch in einem Brief an seine Freunde, und bekundet die Hoffnung auf ein Wiedersehen. Am Tag darauf wurde der Neunzehnjährige von der Frankfurter Großmarkthalle aus ins Vernichtungslager deportiert. Wann und unter welchen Umständen ihn die Nationalsozialisten ermordeten, ob in Majdanek oder in Sobibor, ist nicht mehr herauszufinden.

Schon 1936 war die Familie Oswalt von den Nazis enteignet worden, musste ihre Wohnung verlassen und eine kleine Bleibe beziehen. Die Mutter Wilhelmine verstarb zwei Jahre später an Leukämie. Der Vater Wilhelm Ernst wurde im April 1942 deportiert, zwei Monate vor seinem Sohn, und starb im Juli 1942 im Konzentrationslager Sachsenhausen.

Im Katalog der Erinnerungsstätte an der Großmarkthalle stieß der Filmemacher Heiko Arendt vor einigen Jahren auf den Abschiedsbrief, den Ernst Ludwig Oswalt am Tag vor seiner Deportation an seine Freunde schrieb. Zutiefst berührt von dessen Worten, ließ ihn das Schicksal des jungen Mannes nicht mehr los. Er begann zu recherchieren und hielt das kurze Leben unter dem Titel „Meinen Freunden zum Abschied“ in einem Dokumentarfilm fest.

Das Gerüst des Films bilden Oswalts Briefe an seinen Bruder Heinrich, der seit 1937 in der Schweiz studierte und als einziger der Familie den Holocaust überlebte. Trotz wachsender Bedrohung beschreibt „Lux“, wie er von allen genannt wurde, in diesen Briefen seinen Alltag mit fast stoischer Gelassenheit. Nie klagt er und versucht sogar, die zunehmenden Repressionen wie den Verweis vom Gymnasium, das Verbot einer Buchbinderlehre oder die verordnete Zwangsarbeit zu bagatellisieren.

Heinrich Oswalts Tochter Ruth hält das für Strategie. „Ich glaube, dass Lux seinen Bruder nicht mit den Gräueln der Nazis belasten wollte“, sagte sie in einem Gespräch nach der Vorpremiere des Films im Frankfurter Filmmuseum. Ihr selbst seien die Briefe erst 2008 nach dem Tod ihres Vaters in die Hände gefallen. „Ich war völlig platt, was ich hier zu lesen bekam.“

Die Oswalts waren in Frankfurt Mitinhaber des Verlags „Rütten & Loening“, der unter anderem Heinrich Hoffmanns „Struwwelpeter“ und „Die Heilige Familie“ von Karl Marx und Friedrich Engels publizierte. Der jüdische Philosoph Martin Buber war dort zehn Jahre lang als Cheflektor tätig. Die Familie hatte bereits Mitte des 19. Jahrhunderts den protestantischen Glauben angenommen, Ernst Ludwigs Urgroßvater war sogar Pfarrer in der Petersgemeinde gewesen.

Letzteres hat der Historiker Hartmut Schmidt herausgefunden, der im Rahmen seiner Forschung zu Christinnen und Christen jüdischer Herkunft die Familie Oswalt in den Taufbüchern der Gemeinde entdeckte. Wie Lux in „Meinen Freunden zum Abschied“ erzählt, war er in der Petersgemeinde getauft und konfirmiert worden. Bis kurz vor seiner Deportation leitete er jeden Sonntag den Kindergottesdienst und engagierte sich in der Jugendarbeit.

Das plötzliche Verschwinden des allseits beliebten Jungscharführers schlug jedoch in der Gemeinde kaum Wellen. Dass das Schicksal ihrer jüdischstämmigen Glaubensgeschwister unter evangelischen Christinnen und Christen damals häufig auf Gleichgültigkeit stieß, war damals symptomatisch, so Schmidt. Eine betagte Diakonisse etwa habe sich später erinnert, dass es über Oswalt nur hieß: „Er war Jude“.

Auch nach 1945 scherte sich die evangelische Kirche lange Jahre nicht um ihre ermordeten Mitglieder jüdischer Herkunft, kritisiert Hartmut Schmidt, der 2013 die Ausstellung „Getauft. Verstoßen. Vergessen? Evangelische jüdischer Herkunft 1933-1945“ mit initiierte.

Dass er hier der Familie Oswalt eine ganze Tafel widmen konnte, ist Ruth Oswalt zu verdanken. Neben den Briefen besitzt sie von ihrem Vater Heinrich und seinem Bruder zahlreiche Fotografien. Im Film nutzt Heiko Arendt die Aufnahmen, um zu zeigen, welch überaus fröhliches und lebenslustiges Kind Lux gewesen ist. Vergnügt in die Kamera blickend und oft verkleidet, scheint er stets zu einem Streich aufgelegt.

Ernst Ludwig Oswalt war ein junger und zuversichtlicher Mensch, der einem bestialischen Regime zum Opfer fiel. Wie man seinen Briefen entnehmen kann, besaß Lux eine geistige und emotionale Reife, die in einem so jungen Alter selten zu finden ist. Am Vorabend der Deportation rühmt er seine Freunde mit den Worten: „Wäret Ihr nicht, so könnte ich nicht mit jener Ruhe und Gelassenheit selbständig diesen Weg gehen, der mir nun vorgezeichnet ist.“

Ein Weg, der in der Großmarkthalle, unter den Augen der überwiegend gleichgültigen Frankfurter Bevölkerung begann. Ludwig Oswalt musste sogar noch 50 Reichsmark für die Transportkosten zahlen. Im Film erinnert die Direktorin des Jüdischen Museums, Mirjam Wenzel, an die grausame Deportationsmaschinerie, in die allein in Frankfurt mehr als zehntausend jüdische Bürgerinnen und Bürger gerieten. Nach heutigen Erkenntnissen haben von ihnen nur knapp 200 überlebt.

„Ich weiß nicht, was vor mir liegt, vielleicht ist das gut so“, ist als Gedenkinschrift in der 2015 eröffneten Erinnerungsstätte an der ehemaligen Großmarkthalle, wo heute die Europäische Zentralbank ihren Sitz hat, zu lesen. Der Satz entstammt Lux’ Abschiedsbrief.


Autorin

Doris Stickler 77 Artikel

Doris Stickler ist freie Journalistin in Frankfurt.

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