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„Wir sind ganz normale Menschen, wir leben nur etwas anders“

An der Bonameser Straße in Eschersheim gibt es seit 1953 ein Wohngebiet für Schrotthändler, Zirkusleute und Schaustellerinnen. Es ist auch ein vergessenes Stück bundesrepublikanischer Geschichte. Die Soziologin Sonja Keil vom Diakonischen Werk hat jetzt ein Buch darüber geschrieben. 

Zuhause auf dem Wohnwagenplatz im Frankfurter Norden: Joel Fletterer (11) stammt aus einer alten Zirkusfamilie. Auf den Händen laufen konnte er schon als Vierjähriger.  |  Foto: Rolf Oeser
Zuhause auf dem Wohnwagenplatz im Frankfurter Norden: Joel Fletterer (11) stammt aus einer alten Zirkusfamilie. Auf den Händen laufen konnte er schon als Vierjähriger. | Foto: Rolf Oeser

Zwei Männer aus der Bonameser Straße in Frankfurt-Eschersheim bleiben nachts mit einem technischen Defekt mit ihrem Wagen auf der Autobahn liegen. Sie wünschen sich nicht etwa einen Pannendienst herbei. Sondern ihren blinden Freund und Nachbarn Dieter Gärtner aus ihrem besonderen Wohngebiet. Der konnte nämlich technische Probleme am Motor erfolgreich mit einem Holzstiel diagnostizieren. Das Holz diente dabei der Übertragung der Geräusche, die er als Blinder zuordnen konnte. 

Solche Geschichten kann Sonja Keil einige erzählen. Die Soziologin, die für das Diakonische Werk den Wohnwagenstandplatz Bonameser Straße betreut, hat ihre Doktorarbeit über die besondere Nachbarschaft im Norden der Stadt geschrieben, und daraus auch ein Buch über die Bewohnerinnen und Bewohner gemacht. Als sie es im Dominikanerkloster vorstellt, ist nicht nur Pfarrer Michael Frase, der Leiter der Diakonie Frankfurt gekommen. Sondern auch Karl Klein, der seit vielen Jahrzehnten auf dem „Platz“, wie ihn die Menschen dort nennen, zu Hause ist. 

„Wir sind ganz normale Menschen. Wir leben nur etwas anders als die Mehrheit“, sagt der 57-Jährige. Er ist lange mit einem Kettenkarussell über die Jahrmärkte getingelt. Seine Mutter ist vorn auf dem Buchcover abgebildet: Bei einer halsbrecherischen Darbietung auf dem Hochseil über den Trümmern des Nachkriegs-Frankfurt.

Seit mehr als sechs Jahrzehnten gibt es den Wohnwagenstandplatz Bonameser Straße. Eingeklemmt zwischen der Autobahn A661 und der Homburger Landstraße bildet er seit 1953 eine Nische für Obdachlose, Ausgebombte, Schrotthändler, Artistinnen und auch einige Sinti. Sie alle wurden damals aus dem Stadtgebiet hinaus auf das Ödland geschickt, ein Provisorium sollte es sein. Aber es wurde zur Heimat für viele Menschen. Zu Hochzeiten kamen da auch schon 1600 zusammen. 

Heute leben hier noch 80 Menschen, größtenteils nicht mehr in Wohnwagen, sondern in selbst gebauten Bungalows. Von Beginn an hat die Evangelische Kirche die Bewohnerinnen und Bewohner begleitet, beispielsweise mit Jugendfreizeiten, Gottesdiensten und Hilfe bei Behördengängen. „Es ist eines unserer ältesten Gemeinwesen-Projekte“, sagt Michael Frase. „Ich möchte nicht verhehlen, dass wir in den vergangenen Jahrzehnten unterschiedliche Zielsetzungen hatten und lange darauf ausgerichtet waren, das Quartier weg zu entwickeln“, so der Diakoniepfarrer. Die Menschen, die hier lebten, sollten dazu bewegt werden, sich eine andere Bleibe zu suchen. Erst mit Sonja Keil habe ein Umdenken eingesetzt. Die Wohnheim GmbH, die das Gelände für die Stadt verwaltet, versuche dennoch, weitere Zuzüge zu vermeiden, berichtet Karl Klein.

Wenn man so will, ist die Geschichte der Bonameser Straße auch ein vergessenes Stück bundesrepublikanischer Geschichte. Denn Schrotthändler, Zirkusleute und Schaustellerinnen haben das Deutschland der Nachkriegsjahre unmittelbar geprägt. Im Frühling soll es im Dominikanerkloster eine Ausstellung zum Thema geben. 

Sonja Keil hat auch dafür gesorgt, dass die Geschichten der Menschen aus der Bonameser Straße in die „Bibliothek der Alten“ des Historischen Museums aufgenommen wurden. Es sind Geschichten vom Leben, von Heimat, und von Diskriminierung und Ausgrenzung. „In fast jeder Familie gibt es jemanden, der in der NS-Zeit im Konzentrationslager war“, berichtet Keil. Bis weit in die 80er und 90er Jahre hinein war die Wohngemeinschaft im Stadtteil bei vielen als „Zigeunerlager“ verschrien. 

„Es ist gut, dass hier diejenigen zu Wort kommen und ein Gesicht erhalten, die darunter zu leiden hatten“, schreibt die Frankfurter Sozialdezernentin Daniela Birkenfeld im Vorwort. „Als ich Mitte der 60er Jahre in Eschersheim eingeschult wurde, gehörten zu meinen Klassenkameradinnen und -kameraden auch Jungen und Mädchen aus der Bonameser Straße. Es war klar, dass sie keinen leichten Stand hatten.“

Sonja Keil: „Von Gauklern, Händlern und Artisten – Die Wohngemeinschaft Bonameser Straße“, zu bestellen beim Diakonischen Werk per mail an buchversand@diakonischeswerk-frankfurt.de für 19,95 zuzüglich Porto und Verpackung. Vom 7. Mai bis zum 15 Juni 2018 wird es im Dominikanerkloster am Börneplatz eine Ausstellung zur Geschichte der Bonameser Straße geben.

Zum Weiterlesen: 

Wohnwagenplatz an der Bonameser Straße: Wir sind hier eingewurzelt

Heidi Fletterer bringt Zirkuserlebnisse zu Frankfurter Kindern


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Anne Lemhöfer 145 Artikel

Anne Lemhöfer interessiert sich als Journalistin und Autorin vor allem für die Themen Kultur, Freizeit und Gesellschaft: www.annelemhoefer.de

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