Erinnerungen und Emotionen: Führungen für Demenzkranke im Bibelhaus
„Joholladahüdü!“ ruft Frau M. laut in das große Kuhhorn im Bibelmuseum. Die alte Dame nimmt an einer Führung für demente Menschen teil. Die kleine Gruppe, mit der sie heute aus dem Altenpflegeheim Marthahaus gekommen ist, muss lachen. „Ja“, sagt Museumspädagogin Sabine Weber freundlich, „das erinnert an ein Alphorn. Aber Sie können auch hineinblasen und so einen Ton erzeugen.“
Die alten Frauen und Männer und ihre Unterstützerinnen sitzen und stehen um die Vitrine mit den einfachen Musikinstrumenten aus biblischen Zeiten. Sie können Zimbeln schlagen und in eine einfache Flöte blasen. „Ich weiß noch, wie meine Kinder das gelernt haben“, erinnert sich eine von ihnen.
Sabine Weber will, dass Menschen, bei denen das Gedächtnis langsam nachlässt, eine gute Zeit im Bibelmuseum erleben. „Wir machen diese Führungen von Herz zu Herz, nicht auf gleichem Wissensstand, aber auf Augenhöhe“, sagt sie. Bewusst lässt sie viel Raum für Kommentare und Fragen, geht darauf ein und vermeidet jegliche Hektik.
Die Musikinstrumenten-Vitrine ist schon die zweite Station. Nach dem Reinkommen hatte sich die Gruppe vor dem großen Fischkutter versammelt, der fast den ganzen hinteren Raum einnimmt. Jesus war oft mit Fischern unterwegs, erzählte Sabine Weber, und zeigt entsprechende Bilder aus einer großen alten Bibel.
„Und welches Lied mit einem Schiff fällt Ihnen dazu ein?“ fragt sie in die Runde. Schweigen. „Es kommt ein Schiff geladen, kennen Sie es? Das singen wir jetzt.“ Sobald es losgeht, fällt es den meisten wieder ein: Das Singen vom Textblatt geht wie von selbst. Sabine Weber wundert sich nicht. Sie hat an Fortbildungen zum Thema Demenz teilgenommen und weiß, dass Lieder, die man als Kind gelernt hat, tief im Gedächtnis verankert sind und oft Freude bringen. So ist auch heute. Die Gesichter strahlen, die Stimmung ist gelöst. „Wie schön“, sagt Frau M. und verkündet: „Heute Nacht bleib ich hier im Schiff. Da kann ich wenigstens gut schlafen.“ Dann erzählt sie, dass sie aus der DDR kommt und dort aus der Kirche austreten musste. Aber später wieder eingetreten ist.
Nach dem Singen und Hören ist der Sehsinn gefragt. Auf einer Wand läuft ein Video, auf dem eine Hand langsam griechische Buchstaben schreibt. „In welcher Zeit war das?“ fragt eine der Damen interessiert. Die ganze Gruppe darf den Unterschied zwischen Papyrus und Pergament erfühlen und erfährt, dass man in früheren Zeiten mit einem Stilus schrieb, einem spitzen Stift, den man in ein Farbfässchen tauchte. „Unglaublich, was man alles lernen könnte“, staunt eine. Ein alter Herr erinnert sich an die Qumranrollen. Sabine Weber erklärt, wo man sie gefunden hat.
Währenddessen haben zwei Frauen auf dem Händlertisch vor dem Fischkutter eine Kaffeetafel gedeckt. Mit 1950er-Jahre Geschirr und selbst gebackenen Plätzchen. „Kaffeetrinken gehört für die Gruppen unbedingt dazu“, sagt Sabine Weber. Frau M. erzählt nochmal, dass sie aus der Kirche ausgetreten und später wieder eingetreten ist. Dann nimmt sie sich einen Schokoladenkeks.
„Die Führung ist für viele Gäste ein Highlight“, sagt Beate Laux, die Leiterin der psychosozialen Betreuung im Marthahaus, die heute mitgekommen ist. Selbst bei fortgeschrittener Demenz redeten sie oft noch am nächsten Tag von dem, was sie erlebt haben – mit leuchtenden Augen. „Der Ausflug ins Bibelhaus aktiviert bei vielen Erinnerungen und Emotionen. Das ist ein Geschenk.“
Die Führungen sind für die Gäste zudem gratis, denn „DiaDem“, ein Fonds der Stiftung Diakonie Hessen für die Verbesserung der Lebensqualität von Menschen mit Demenz, hat dem Bibelhaus im Oktober 2019 einen Scheck über 6240 Euro übergeben. „Die Testphase war positiv, jetzt soll es weitergehen“, sagt Sabine Weber. Willkommen sind Gruppen aus der ganzen Stadt. Gerne auch gemischte Gruppen: Menschen mit und ohne Demenz. Denn: „Wir sind eine alternde Gesellschaft und es wird immer mehr demente Menschen geben“, sagt die Museumspädagogin. „Die Gesellschaft sollte so schnell wie möglich Berührungsängste verlieren.“
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