„Zusammenhalt gibt es nur, wenn für alle dieselben Regeln gelten“
Die
Ausgangslage ist klar. Noch nie waren so viele Menschen in Deutschland in
bezahlter Arbeit wie heute. Und doch klafft die Kluft zwischen Arm und Reich immer
weiter auseinander. Ein Fünftel aller Arbeitsplätze sind im Niedriglohnsektor.
Den Bereich der prekären Beschäftigungsverhältnisse schätzen manche gar auf 40
Prozent. Private Vermögen haben einen Höchststand erreicht, und gleichzeitig
wächst die Armut. Dies verstärkt auch in der Mittelschicht Abstiegsängste,
nicht nur angesichts steigender Mietpreise. Und dann ist noch die AfD mit ihren
Wahlerfolgen und ihrem Populismus, der vor rechtsextremen Parolen nicht halt
macht.
Grund genug für die Kirchen und die Gewerkschaften in Hessen zu fragen: „Was hält die Gesellschaft zusammen“? Drei katholische Bistümer (Fulda, Mainz und Limburg), drei evangelische Landeskirchen (Rheinland, Hessen-Nassau und Kurhessen-Waldeck) sowie der Deutsche Gewerkschaftsbund hatten erstmals zu einer gemeinsamen Diskussion geladen.
Ulrike Eifler vom DGB-Südosthessen entwarf ein düsteres Bild der derzeitigen Risse in der Gesellschaft. Das politische Klima sei nach rechts verschoben, die Bundestagswahl eine Zäsur, mit der man näher an die Weimarer Verhältnisse in den 1920er Jahren rücke.
Der Baseler Soziologe Oliver Nachtwey warf einen analytischen Blick auf die heutigen gesellschaftlichen Prozesse. Sicher, die Gesellschaft erodiere und im Arbeitsleben vermissten viele die Solidarität. Doch trotz aller Dramatik komme man in Deutschland noch zusammen. Grundsätzlich gelte, dass eine Gesellschaft dann zusammenhält, wenn die Menschen den Eindruck haben, dass alle sich an die gleichen Regeln halten. Das bedeutet nicht, dass es keine Unterschiede gibt. Nachtwey verglich das mit einem Haus, wo unten Menschen in einfachen Wohnungen leben, im ersten Stock die Wohnungen schon besser seien und oben geradezu luxuriös – aber es richten sich doch alle nach derselben Hausordnung. Es gibt keine Sonderrechte und auch keine Parallelgesellschaften , anders als sie sich derzeit bei den „oberen ein Prozent“ der Superreichen herausbildeten.
Die neoliberale Ausrichtung der Politik überlasse alles dem Markt, der so etwas wie ein „anonymer Gott“ geworden sei. Der Markt müsse aber eingebettet sein in andere Bezugsgrößen wie Familie, Freundschaften oder eine Dorfgemeinschaft. Der Limburger katholischen Bischof Georg Bätzing wies darauf hin, dass der Markt nicht an Normen interessiert ist. Gerechtigkeit, Gleichheit und die Würde der Einzelnen müssten daher als gesellschaftliche Norm durchgesetzt werden. Dazu sei, so Kirchenpräsident Volker Jung, auch Empathie notwendig, also dass Menschen sich in die Lage von anderen hineinversetzen. Jung rief dazu auf die Demokratie weiterzuentwickeln, um Partizipation zu ermöglichen.
Neben der neoliberalen Ausrichtung sieht Nachtwey noch eine zweite Ursache für die derzeitigen gesellschaftlichen Spannungen, nämlich die Individualisierung. Frühere Formen der Vergemeinschaftung wie zum Beispiel Vereine verlieren an Bedeutung, die Einzelnen seien zunehmend auf sich alleine gestellt. Damit werden sie auch immer abhängiger von gesellschaftlichen Institutionen: Wer keine Großeltern in der Nähe hat, ist mehr auf Krippe oder Kindergarten angewiesen, wer keine Kinder oder Verwandte in der Nähe hat, muss bei Pflegebedürftigkeit ins Heim. Und so entstehe das Paradox, dass die modernen Individuen gerade wegen ihres Individualismus immer abhängiger von der Gesellschaft werden.
Und was also nun tun? Nachtwey forderte Kirchen und Gewerkschaften dazu auf, sich einzumischen und auch für konkrete politische Ziele einzutreten, etwa für die Einführung einer Vermögenssteuer oder die Abschaffung von Leiharbeit. Bischof Bätzing war der Ansicht, dass die die meisten Probleme nicht auf der Ebene des Nationalstaates gelöst werden könnten. Angesichts der Globalisierung der Märkte brauche es eine größere Solidarität: „Es gibt keine Alternative zu Europa. Europa muss stärker werden.“
Michael Rudolph vom DGB Hessen-Thüringen sieht die Gewerkschaften durchaus als einen Ort der Solidarität. Hier seien die unterschiedlichsten Berufsgruppen vereint, und es würden nicht nur Einzelinteressen vertreten, wie in den Spartengewerkschaften. Um die „Würde der Arbeit“ wieder herzustellen, müsse die prekäre Beschäftigung abgeschafft werden. Die gemeinsam von Kirchen und Gewerkschaften durchgeführte Kampagne für einen arbeitsfreien Sonntag sei zum Beispiel ein Beitrag gegen die Entgrenzung der Arbeitswelt und gegen die zunehmende Vermischung von Freizeit und Arbeit.
Allerdings wies Nachtwey auch darauf hin, dass das Vertrauen in traditionelle Institutionen wie eben Kirchen und Gewerkschaften ebenfalls bei vielen Menschen verloren gegangen sei. Jedes Jahr gebe es in Deutschland 300.000 Kirchenaustritte, die Mitgliederzahl der Gewerkschaften stagniere.
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