Ethik & Werte

„Zuhause gelte ich als Extremistin, weil ich lesbisch bin“

Viele Frauen und queere Menschen aus der Ukraine, aber auch aus Russland fliehen nach Deutschland. Das Evangelische Frauenbegegnungszentrum reagiert mit muttersprachlichen Angeboten.

Sorgen für interkulturelle Begegnungen im Evangelischen Frauenbegegnungszentrum: Leiterin Anne Daur-Lyrhammer und die Referentinnen Maimouna Jah und Anastasia Gettikh (von links nach rechts). | Foto: Anne Lemhöfer
Sorgen für interkulturelle Begegnungen im Evangelischen Frauenbegegnungszentrum: Leiterin Anne Daur-Lyrhammer und die Referentinnen Maimouna Jah und Anastasia Gettikh (von links nach rechts). | Foto: Anne Lemhöfer

Anastasia Gettikh sitzt zusammen mit Kolleginnen entspannt auf einer Bank vor der mintgrünen Wand im gemütlichen Lesezimmer des Evangelischen Frauenbegegnungszentrums EVA. Auf dem selbst gebauten Bücherbord steht eine Ausgabe der feministischen Zeitschrift „Missy Magazin“. Anastasia Gettikh ist beruflich angekommen, wenn man das so sagen kann.

Vor neun Jahren zog die heute 31-Jährige als Spätaussiedlerin aus der Stadt Jaroslawl bei Moskau nach Frankfurt. In Russland hatte sie Kulturwissenschaften und Tourismus studiert. In Frankfurt arbeitete Gettikh zunächst als Verkäuferin („Das war gar nicht meins“), danach in einem Bürojob. Seit einem Jahr ist sie Referentin im EVA. Das passt perfekt: „Ich kam schon eine ganze Weile als Teilnehmerin zu Veranstaltungen, danach machte ich ehrenamtlich mit. Nun bin ich Referentin und kann sogar den touristischen Teil meines Studiums einbringen: Ich biete Stadtführungen durch Frankfurt auf Deutsch und Russisch an.“

Seit Russland am 24. Februar 2022 die Ukraine angriff, hat sich das EVA zu einem Anziehungspunkt für geflüchtete Frauen und ihre Familien in Frankfurt entwickelt. Auch für zahlreiche queere Menschen und Regenbogenfamilien ist es ein wichtiger Treffpunkt. Die Frankfurter Frauenpfarrerin und Leiterin des EVA, Anne Daur-Lyrhammer, knüpfte schon früh in Internetforen Kontakte und hat etliche Familien von Beginn ihrer Flucht an betreut – eingebettet in ein großes Netzwerk aus ehrenamtlichen Helfer:innen. „Netzwerken ist das Allerwichtigste“, sagt sie.

Bis heute helfen sie oder Anastasia Gettikh bei Wohnungs- und Kita-Suchen oder bei Behördengängen. „Neulich waren wir mit dem Standesamt in Kontakt, um die Hochzeit von zwei Frauen anzumelden“, sagt Gettikh. „Aber auch das Angebot für Seelsorge ist unglaublich wertvoll“, betont Pfarrerin Daur-Lyrhammer. Im Blog „Soulsisters“ hat sie die Flucht und das Ankommen von Anastasiya und Lena mit ihrer kleinen Tochter Mia aus der Ukraine dokumentiert. Viele bewegende gemeinsame Momente sind darin festgehalten, zum Beispiel die erste Frauentagsdemo nach der Flucht. „Sie fragten: Wo ist die Polizei? Ich erklärte, dass in Deutschland Demonstrationen erlaubt sind und angemeldet werden. Wenn Polizei kommt, soll sie die Menschen schützen. Sie konnten es kaum fassen.“

Nicht nur aus der Ukraine kommen lesbische Frauen und queere Menschen nach Deutschland, sondern auch aus Russland. „Sie sind genauso vor dem Krieg und vor Putins Regime geflohen, und für queere Paare ist es in Russland gefährlich“, erklärt Anastasia Gettikh. Zwar gebe es bisher keine direkte Strafe, wenn gleichgeschlechtliche Menschen als Paar zusammenleben, aber es ist verboten, dies als etwas Positives oder Gleichwertiges wie eine heterosexuelle Beziehung darzustellen. „Zuhause gelte ich als Extremistin, weil ich lesbisch bin.“

Während „heteronormativ“ lebende Geflüchtete aus der Ukraine in der Regel schnell wieder in ihre Heimat zurückkehren möchten, wollen die meisten queeren Ukrainerinnen in Deutschland bleiben. Viele machen hier zum ersten Mal die Erfahrung, entspannt und angstfrei als Regenbogenfamilie leben zu können – auch wenn es in der Ukraine bei diesen Themen liberaler zugeht als in Russland.

Dank Anastasia Gettikh kann das EVA mehrsprachige Veranstaltungen anbieten, Gesprächskreise zum Leben in Deutschland oder eben Stadtführungen. Anne Daur-Lyrhammer ist berührt, was für eine Gemeinschaft da zusammengewachsen ist: „Als ich meinen ukrainischen Freundinnen in Dietzenbach vom Fest zum Weltfrauentag erzählte, sagten sie sofort zu, für uns zu kochen. Lena formte tagelang kleine gefüllte Teigtaschen, Wareniki. Es wurden große Töpfe voll Borschtsch gekocht, das ganze EVA durchzog ein wunderbarer Duft. Auch meine Eltern, die eigentlich als Kindersitter da waren und sich dezent auf den Balkon gesetzt hatten, wurden hereingebeten, und es war sehr wichtig für einige Frauen, zu erleben, dass es Eltern gibt, die ihre lesbische Tochter so unterstützen. Lange noch wurde gesprochen und getanzt. Zum Abschluss sangen einige Gäste spontan ein Lieblingslied für uns – Frauen aus der Ukraine, Kasachstan und Russland zusammen. So geht Frieden!“

Interkulturelle Arbeit im EVA

Schon lange setzt das Evangelische Frauenbegegnungszentrum EVA in der Saalgasse 15 (in unmittelbarer Nähe zum Römer) einen Schwerpunkt auf Interkulturelle Arbeit. Zum Beispiel gibt es „Safe Spaces“ für Frauen und Queers mit BIPoC-Hintergrund (Black, Indiginous, Persons of Color). Dort können sich Schwarze oder andere Frauen und Queers, die rassistisch diskriminiert werden, in einer sicheren Umgebung treffen, etwa bei speziellen Filmabenden – der nächste ist am Samstag, 21. September, um 18 Uhr. Die zuständige Referentin Mainmouna Jah organisiert außerdem in der EVA-Dependance am Frankfurter Berg Treffs und Veranstaltungen für Frauen aus verschiedenen Herkunftsländern. Das Themenspektrum des EVA reicht von Veranstaltungen zu Religion und Spiritualität über häusliche Gewalt und Älterwerden sowie Kreativität, Freizeit und Kultur bis hin zu Meditation. Jeden zweiten Dienstag im Monat wird um 19 Uhr ein ökumenischer Gottesdienst in der Alten Nikolaikirche am Römerberg gefeiert. Das komplette Programm steht im Internet unter www.eva-frauenzentrum.de.


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Anne Lemhöfer 144 Artikel

Anne Lemhöfer interessiert sich als Journalistin und Autorin vor allem für die Themen Kultur, Freizeit und Gesellschaft: www.annelemhoefer.de

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