Ethik & Werte

Tiere: Wir lieben sie, wir töten sie

Die einen sind für uns wie Familienmitglieder, den Wert der anderen bemessen wir in Kilopreisen: Die Beziehung zwischen Mensch und Tier ist kompliziert.

Katzen sind die beliebtesten Haustiere. Sie bieten Menschen Gesellschaft, Begleitung. Unterhaltung. | Foto: Christine Knappe / Unsplash
Katzen sind die beliebtesten Haustiere. Sie bieten Menschen Gesellschaft, Begleitung. Unterhaltung. | Foto: Christine Knappe / Unsplash

Wenn unser Kater Rosi schnurrt, ist die Welt in Ordnung. Meistens schnurrt Rosi allerdings nicht, sondern jagt, schläft oder frisst. Was ja auch wieder ganz gut zur Welt passt. Seit Rosi bei uns lebt, haben wir jedenfalls die Vielfalt der Schöpfung live im Wohnzimmer. Wozu leider auch die eine oder andere halbtote Maus zählt, und ab und an ein Rudel Flöhe.

Die Katze als beliebtestes Haustier der Welt hat, anders als Mäuse oder Flöhe, einen gigantischen Sympathiebonus beim Menschen, nicht nur bei uns. Der Schriftsteller Mark Twain soll seine Katzen so geliebt haben, dass er sich auf Reisen fremde Tiere ausleihen musste, um ihre Abwesenheit zu ertragen. Jeder aus unserer fünfköpfigen Familie kann das verstehen, auch wenn wir nicht ganz so weit gehen. Aber wir sitzen regelmäßig um Rosi herum und bestaunen ihn wie das achte Weltwunder.

Wie er beim Putzen das Bein nach oben streckt! Wie er auf einmal fast einen Meter lang ist, wenn er sich räkelt! Wie weiß das Fell an seinem Bauch ist! Wie er ganz wichtig irgendeine Katzenangelegenheit verfolgt, sie dann aus den Augen verliert und verwirrt im Wohnzimmer steht, um anschließend erst einmal ein Schläfchen zu halten. Göttlich. Und seltsam tröstlich ist es, ihn dabei zu beobachten, wie sich seine großen Dreiecks-Ohren drehen wie Fernmeldeteleskope.

Rosi ist einer von unglaublich vielen. 34,7 Millionen Haustiere verschiedenster Art soll es in Deutschland geben – Hunde, Katzen, Kaninchen, Vögel, Reptilien, Fische (wobei hier jedes Aquarium nur einmal gezählt wurde). Etliche sind in der Pandemie dazugekommen, als es plötzlich an vielem mangelte, was den Menschen heilig ist: Gesellschaft, Begleitung, Unterhaltung.

Die Philosophin, Journalistin und Tierrechtlerin Hilal Sezgin ist 2007 von Frankfurt in die Lüneburger Heide gezogen. Dort lebt sie seither in einem alten Bauernhaus und betreibt einen Lebenshof für alternde Tiere. In ihrem neuen Buch „Vom fordernden und beglückenden Leben mit Tieren“ erzählt sie davon, wie es ist, eine Schafherde, Legehennen und zahlreiche weitere Tiere zu übernehmen.

Seit dreißig Jahren befasst sich Sezgin mit philosophischer Tierethik. „Wir haben viel Verantwortung, wenn wir über das Leben der Tiere und bisweilen sogar über den Zeitpunkt ihres Todes entscheiden“, sagt sie. „Es geht nicht allein darum, dass man Tiere nicht essen darf, dass man sie nicht töten oder einsperren darf. Es geht vielmehr und vor allem darum, dass auch sie kein Etwas sind, sondern ein Jemand. Was sie erleben und dass sie leben, hat für sie Bedeutung. Daraus folgt alles andere, so das Verbot, sie zu töten, und ihr Recht auf Freiheit.“

So konsequent wie Hilal Sezgin sind allerdings bisher nur wenige. Doch immer mehr Menschen wird klar, dass wir neu über unser Verhältnis zu Tieren nachdenken müssen. Dabei können Erkenntnisse der Soziologie helfen. Zum Beispiel Marcel Sebastians Buch „Streicheln oder Schlachten?“ Bereits der Titel tut weh, denn bei den meisten Leser:innen schleicht sich an dieser Stelle ein Gefühl des Unwohlseins ein: Eigentlich muss es an dieser Stelle ja nicht heißen „oder“, sondern „und“. Denn alle, die nicht konsequent vegan leben, müssen diesen Widerspruch aushalten, dass Tiere liebzuhaben und Tiere zu essen im Alltag gleichermaßen üblich ist. Logisch ist das nicht.

Während sich der Wert von Rind, Schwein und Huhn meist in Kilogrammpreisen misst, sind Haustiere geliebte Familienmitglieder und durch nichts aufzuwiegen. Marcel Sebastian erklärt in seinem Buch, welche historischen, soziologischen und kulturellen Erklärungen es für dieses ambivalente Verhältnis der Menschen zu ihren Mitlebewesen gibt. Für seine Doktorarbeit hat er unter anderem in Schlachthöfen geforscht und analysiert, wie Schlachter mit dem täglichen Töten von Tieren umgehen. Sebastian fordert seine Leser:innen dazu auf, sich eine eigene Meinung zu bilden und bisherige Verhaltens- und Denkmuster zu hinterfragen.

Auch Rundfunkpfarrer Martin Vorländer hat sich über das Verhältnis zwischen Mensch und Tier schon viele Gedanken gemacht. Regelmäßig ist der Theologe morgens samt Hund mit einem geistlichen Impuls auf Instagram zu finden. Auch seine Trauer um die Hundedame Ginger, die bis zu ihrem Tod in den Videos dabei war, teilte er mit seinen Zuschauer:innen. Heute ist James mit dabei, der manchmal die Schnauze ruhig in die Kamera hält und manchmal wegflitzt.

Haben Tiere eine Seele? Kommen sie in den Himmel? Pfarrer Vorländer ist davon fest überzeugt, und ergänzt vorsorglich: „Die Frage, wie wir dann im Himmel mit den ganzen Mücken klarkommen sollen, können wir dabei aber getrost Gott überlassen.“

Es bewege ihn immer wieder, wie ein Hund Vertrauen aufbauen könne zum Menschen, sagt Vorländer. Je nach Vorgeschichte und Persönlichkeit des Tiers könne das auch mal ein längerer Prozess sein. „Wenn ein Lebewesen, das einem anvertraut ist, seine Angst verliert, entsteht eine Verbindung. Und Glaube ist eigentlich ein anderes Wort für Vertrauen.“

Gerne zitiert er den Pfarrer und Arzt Albert Schweitzer, der schrieb: „Ich bin Leben inmitten von Leben, das auch leben will.“ Mensch und Tier seien gleichermaßen in den Kreislauf der Schöpfung eingebettet, „denn nach uns kommt auch wieder Leben, das leben will“.

Das berühmte und im Internet oft geteilte „Gebet für die Tiere“ sei Albert Schweitzer zwar womöglich nur zugeschrieben, Vorländer findet es aber dennoch treffend und berührend zugleich: „O Gott, höre unser Gebet für unsere Freunde, die Tiere, besonders für alle die Tiere, die gejagt werden oder sich verlaufen haben oder hungrig und verlassen sind und sich fürchten; für alle Tiere, die eingeschläfert werden müssen.“

Aber wie bringen wir das zusammen? Das Tier im Bastkörbchen, das wir streicheln und lieb haben – und die Bratwurst auf dem Teller? Muss, wer die Tiere liebt, vegan oder wenigstens vegetarisch leben?

Martin Vorländer ist kein Vollzeit-Vegetarier, aber ein Freund des Prinzips Sonntagsbraten: Er isst wenig Fleisch, aber wenn, dann von einem Tier, das artgerecht gehalten wurde. Auch die Bibel bleibt in der Frage nach dem Verhältnis von Mensch und Tier ambivalent. Hier steht beides nebeneinander, das Pessach-Fest mit dem Lamm als Festmahl und das Lamm als Haustier.

Der Tierethikerin Hilal Sezgin erscheint solch ein Pragmatismus inkonsequent. Sie selbst hat im Alter von 13 Jahren aufgehört, Fleisch zu essen und lebt seit über einem Jahrzehnt vegan. Sezgin warnt aber davor, die Beziehung zwischen Mensch und Tier zu idealisieren: Tiere zu retten und zu versorgen, mit ihnen zusammenleben, das klinge für viele wunderbar. Aber: „Immer deutlicher werden mir auch die vielen Ungewissheiten, die sich auftun, wenn man anderen Wesen zu helfen versucht und doch eigentlich das Richtige, das Beste für sie tun will. Nur, was ist denn das Richtige, wenn man den Betreffenden nicht nach seinen Wünschen befragen kann?“

Diese Frage bewegte womöglich auch jenen Mann, von dem in der Bibel in einer Geschichte des Propheten Nathan (2. Samuel) die Rede ist. Er war sehr arm und besaß „nichts außer einem kleinen Lamm. Er versorgte es liebevoll und zog es zusammen mit seinen Kindern groß. Es durfte sogar aus seinem Teller essen und aus seinem Becher trinken, und nachts schlief es in seinen Armen.“

Solche weitgehenden Rechte besitzt unser Kater Rosi zwar nicht. Aber auch er wird nicht nur von uns, sondern auch von Gott geliebt. Ganz sicher.


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Anne Lemhöfer 144 Artikel

Anne Lemhöfer interessiert sich als Journalistin und Autorin vor allem für die Themen Kultur, Freizeit und Gesellschaft: www.annelemhoefer.de