„Sterbehilfe am Lebensende darf nicht zum Normalfall werden“
Erst kippt das Bundesverfassungsgericht das Verbot geschäftsmäßiger Sterbehilfe, dann kommt die Corona-Pandemie mit ihren täglichen Nachrichten über Infizierten-Zahlen und Todesfälle: Die Diskussion darüber, wie wir als Gesellschaft mit dem Lebensende umgehen wollen, ist noch lange nicht zu Ende. Zum Thema „Recht auf Leben – Recht auf Sterben“ haben die Evangelische Akademie Frankfurt und die Katholische Akademie Rabanus Maurus ein Zoom-Podium mit Experten veranstaltet, das auch nachträglich noch auf Youtube angeschaut werden kann.
Mit dabei ist Gian Domenico Borasio, Palliativmediziner und einer der bekanntesten Ärzte seines Fachs in Europa. Seit März 2011 ist er Professor für Palliativmedizin an der Universität Lausanne und Chefarzt der Abteilung Palliative Care am Centre Hospitalier Universitaire Vaudois. Sein Diskussionspartner ist der evangelische Theologe Reiner Anselm, seit 2014 Inhaber des Lehrstuhls für Systematische Theologie und Ethik an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Durch die Diskussion führt der Theologe Kurt Schmidt, der dem Ethik-Komitee des Agaplesion-Markus-Krankenhauses vorsitzt.
Gian Domenico Borasio begrüßt das aktuelle Urteil zur Sterbehilfe, habe doch die vorherige Rechtslage in Deutschland verhindert, dass Todkranke mit ihren Ärztinnen und Ärzten offen über ihre Wünsche sprechen können. Borasio schätzt, dass etwa ein Prozent aller Todkranken einen „stabilen Sterbewunsch“ hegen, das wären pro Jahr in Deutschland immerhin 20.000 Menschen. „Das sind so viele, dass wir nicht einfach sagen können: Wir brauchen uns um diese Menschen nicht zu kümmern.“
Die Debatte um die Sterbehilfe sei insgesamt sehr männlich geprägt, merkte Borasio an. Vielleicht ein Grund, warum dabei immer das Selbstbestimmungsrecht des Patienten oder der Patientin im Vordergrund steht. „Das Prinzip der Fürsorge tritt dahinter etwas zurück, was ein Problem ist." Selbstbestimmung des Patienten und Fürsorge stehen für ihn in einem dynamischen Spannungsverhältnis zueinander. Denn ein Todeswunsch sei manchmal auch einfach der Wunsch nach weiteren Hilfsangeboten, „allerdings ist das nicht immer der Fall“. Die Diskussion über Sterbehilfe sei allerdings auch eine große Nebelkerze", sagt der Palliativarzt. Denn sie lenke von den wahren Bedrohungen am Lebensende ab, die in Über- oder Untertherapie sowie in der Einsamkeit der Sterbenden bestünden. „Es ist auch eine hoch symbolische Debatte.“
Der Theologe Reiner Anselm wies darauf hin, dass die Bibel Suizid keineswegs eindeutig verdamme. Er zitierte aber auch Dietrich Bonhoeffer: „Gott tritt auch für das Recht auf Leben derer ein, die es nicht mehr haben wollen.“ Dennoch dürften es die staatlichen Rahmenbedingungen nicht gänzlich unmöglich machen, den Suizid als Ausweg zu wählen.
Bei beiden Diskussionspartnern und auch Moderator Kurt Schmidt zeigte sich aber eine Angst: nämlich die, dass der assistierte Suizid Schwerkranker zum Normalfall werde. „Das müssen wir unbedingt verhindern“, sagte Reiner Anselm. Er zog einen Vergleich zum Bluttest zur Pränataldiagnostik, der schnell „gesellschaftliche Normalität“ geworden sei. „Von Selbstbestimmung kann da keine Rede sein, wenn der Eindruck entsteht: Das ist eben so.“ Es beteiligten sich außerdem zahlreiche Menschen über den Live-Chat an der Diskussion, etwa kam auf diesem Weg das Thema Sterbehilfe bei Demenz zur Sprache. „Patientinnen und Patienten mit Demenz können keine Suizidhilfe in Anspruch nehmen“, sagte Borasio. „Hier ist die Schutzfunktion ganz wichtig.“
Die Veranstaltung ist unter diesem Link im Internet abrufbar
0 Kommentare
Zu diesem Artikel wurden noch keine Kommentare verfasst. Schreiben Sie doch den ersten.