Stadtdekan Achim Knecht: „Sexualität hat mit Liebe zu tun, nicht nur mit Fortpflanzung“
Welchen Stellenwert hat Sexualität und warum und wo muss sie aus einer christlichen Perspektive reglementiert werden?
Sexualität ist ein Geschenk des Lebens, ein Geschenk Gottes, das Intimität und heilsame Nähe zu anderen Menschen ermöglicht, das einem hilft, zu sich selbst zu finden bei einem anderen Menschen. Aus einer evangelischen Perspektive ist Sexualität eingebettet in Liebe und lässt Menschen intensives Glück und Lust erleben. Sie hat damit zu tun, dass der Mensch von Gott zur Gemeinschaft geschaffen ist. Natürlich dient Sexualität oft auch der Fortpflanzung, aber das ist nicht ihr alleiniger Sinn. Es wäre eine Engführung, Sexualität auf Fortpflanzung zu beschränken. Auch in der Liebe zwischen zwei Männern oder zwei Frauen hat Sexualität ihren berechtigten Platz. Auch für den Bereich der Sexualität braucht es Regeln, so wie für andere Bereiche des Lebens ja auch, damit Menschen sich nicht gegenseitig verletzen, kränken, unnötig wehtun. Diese zielen darauf, dem Partner, der Partnerin mit Achtung und Respekt zu begegnen und das Zusammenleben in der Familie als verlässliche Lebensgemeinschaft zu schützen, damit in ihr auch Kinder geborgen aufwachsen können. Das schließt auch andere Familienformen als die traditionelle ein: Familie ist, wo Menschen dauerhaft Verantwortung füreinander übernehmen. Dies hat die Evangelische Kirche in Deutschland in einer vor einigen Jahren veröffentlichen Denkschrift zum Thema Familie ausdrücklich betont und auch biblisch begründet.
Und zu diesem weiten Familienbegriff gehört auch die Akzeptanz von Trennungen und Scheidungen?
Von der Tradition her gilt die Ehe als unauflöslich, als eine Gemeinschaft, die erst durch den Tod geschieden wird. Aber das Leben ist oft anders, und es geht ja vor allem darum, Leben und Liebe zu ermöglichen. Deshalb trauen wir auch Geschiedene und akzeptieren es schmerzlich, wenn Ehen oder Beziehungen scheitern. Manchmal ist es einfach besser, wenn Menschen auseinander gehen, bevor sie sich gegenseitig das Leben zur Hölle machen. Da hat die evangelische Kirche einen notwendigen Realitätssinn. Es wäre unbarmherzig, an dem Ideal der Unauflöslichkeit auch dann festzuhalten, wenn zwei Menschen realistischerweise nicht mehr zurück zur Liebe finden können. Trotzdem steckt in der Idee von der Unauflöslichkeit der Ehe auch ein enormer Impuls, um Beziehungen förderlich zu gestalten. Sie bedeutet, dass ich den anderen Menschen nicht als Gebrauchsgegenstand sehe, dessen ich mich nach Gutdünken auch wieder entledigen darf, sondern als eine Person, die unbedingt geachtet und respektiert werden soll.
Weshalb kennt die evangelische Kirche kein Zölibat?
Ja, das war ja gewissermaßen ein zentrales Ereignis in der Geschichte der Reformation, dass der Mönch Martin Luther die Nonne Katharina von Bora geheiratet hat. Er hat seine Ehe mit ihr sehr genossen. Die evangelische Kirche erwartet von ihren Geistlichen keinen Verzicht auf Sexualität, da der Zölibat kein biblisch begründbares Gebot ist. Partnerschaft und Sexualität gehören natürlich auch zum Leben der Pfarrerinnen und Pfarrer. Der Verzicht auf Sexualität ist eben keine besondere Glaubensprobe, und es gibt keinen Grund, warum das partnerschaftliche Leben nicht auch beim kirchlichen Personal eine Rolle spielen kann und darf. Bis hin zu gleichgeschlechtlichen Partnerschaften und anderen Lebensformen im Pfarramt, die wir in der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau seit einigen Jahren selbstverständlich akzeptieren.
Welche Bedeutung hat das Schwangerwerden, das Kinderzeugen für die Sexualität? Der Protestantismus hat ja, anders als die katholische Kirche, kein Problem mit Verhütung.
In der Tat. In evangelischer Sicht hat Sexualität vor allem mit der Liebe zweier Menschen zu tun und dient nicht ausschließlich der Fortpflanzung. Die Ausgestaltung der sexuellen Beziehung zweier Menschen und damit auch die Frage der Nutzung von Verhütungsmitteln ist eine Entscheidung des jeweiligen Paares, zu der die Kirche keine Vorschriften machen soll.
Und wie stehen Sie zum Thema Abtreibung?
Auch da versuchen wir, uns auf die gesellschaftliche Wirklichkeit zu beziehen. Ich meine, dass man werdendes Leben nicht gegen die Frau und ohne die Frau schützen kann, sondern nur gemeinsam mit ihr. Deshalb verfolgen wir einen ergebnisoffenen Ansatz in der Schwangerschaftskonfliktberatung. Vielleicht könnte man sagen, wir sind mit unserer Position in der Mitte zwischen einer ganz unbedingten Position, die sagt, es muss gegebenenfalls auch gegen den Willen der Frau das werdende Leben schützen, und manchen anderen Positionen, wonach ausschließlich die Befindlichkeit der Eltern gesehen wird und der Schutz des werdenden Lebens gar keine Rolle spielt. Ein Punkt, der dabei meiner Ansicht nach noch mehr gesehen werden müsste, ist der Einfluss des Vaters. Väter spielen nämlich oft auch eine eher unrühmliche Rolle dabei, für manche von ihnen zählt nur, ob sie sich vorstellen können, ein Kind zu haben, alles andere zählt da gar nicht. Das ist mir definitiv ein viel zu egoistischer Ansatz. Unsere Praxis ist, dass wir eine große Empathie für das werdende Leben haben, aber wir begleiten eben auch Menschen, die zu anderen Entscheidungen kommen. Es gibt eben auch konkrete Fälle, bei denen die Entscheidung für eine Abtreibung das kleinere Übel ist.
Lesen Sie hier die katholische Position zum Thema von Stadtdekan Johannes zu Eltz