Strafe Gottes oder einfach Keime? Zum Verhältnis von Religion und Pandemie
Die Vorstellung, dass Pandemien eine Strafe Gottes seien, teilt heute nur eine Minderheit von Menschen. Vor dem Aufkommen eines wissenschaftlichen Weltbildes war dies jedoch die vorherrschende Meinung, zumindest in christlich geprägten Kulturkreisen. Ein Ausspruch des Apostel Paulus war daran nicht ganz unbeteiligt: „Die Weisheit dieser Welt ist Torheit vor Gott.“
Ein Postulat, das der Römische Kaiser Justinian besonders rigoros befolgte. Der Medizinhistoriker und Epidemiologe Stefan Winkle beschreibt in seinem Werk „Die Geschichte der Seuchen“ wie Justinian Mitte des 6. Jahrhunderts die neuplatonischen Akademien in Athen und Alexandria schließen ließ und Philosophen und Ärzte aus dem Land warf. Als kurz darauf in Byzanz die Pest kursierte, waren die Folgen entsprechend fatal. Jeden Tag starben 10.000 Menschen, weil der Kaiser die Seuche allein durch die Anrufung von Heiligen und den Einsatz von Reliquien bekämpfte. Angesichts der Todeszahlen war an kirchliche Bestattungen nicht mehr zu denken. Berge von Leichen wurden in die Türme der Stadtmauern verfrachtet oder, als diese voll waren, einfach an den Strand gelegt oder ins Meer geworfen. Bis zum Ende des Jahrhunderts fiel mehr als die Hälfte der Bevölkerung des Byzantinischen Reiches der „Justinianischen Seuche“, wie sie schon bald genannt wurde, zum Opfer.
Pestabwehr-Prozessionen als Superspreader
In Frankreich und Italien waren die Verhältnisse ähnlich katastrophal. Anno 590 ordnete in Rom Papst Gregorius I. Pestabwehrprozessionen an, die sich als das entpuppten, was man heute Superspreading-Ereignisse nennt. Einige Jahrhunderte später wurden auch die Kreuzzüge zur Ursache für die Verbreitung von ansteckenden Krankheiten, in noch viel größerem Ausmaß.
Als Mitte des 14. Jahrhunderts in Italien erneut der Schwarze Tod kursierte, gab es zwei entgegengesetzte Tendenzen, erläutert der Frankfurter Theologe und Medizinethiker Kurt Schmidt, der sich mit der Geschichte der Pandemien beschäftigt hat: Einerseits sei es zu einer verstärkten Hinwendung zur Religion gekommen. Ein Teil der Menschen habe Zuflucht in den Kirchen gesucht, wo sie dann allerdings dicht gedrängt in den Bänken gesessen und unwillentlich zur weiteren Verbreitung der Seuche beigetragen hätten. Andererseits sei damals aber auch das Vertrauen in Kirche und Obrigkeit geschwunden. Viele Menschen sahen in der Religion keine rettende Instanz mehr. Wie sehr die Glaubenswelt damals erschüttert wurde, lässt sich etwa im Einleitungskapitel von Giovanni Boccaccios „Decamerone“ nachlesen. Das sterbende Florenz und das grausame Leid der Erkrankten ist dort eindrucksvoll dokumentiert, wobei Boccaccio vier Weisen der menschlichen Reaktion auf die tödliche Seuche unterscheidet: Ignoranz gegenüber der Gefahr; Mäßigung des Lebensstils als Versuch, die Ansteckung zu vermeiden; Fatalismus, begleitet von einem besonders exzessiven und unmoralischen Lebensstil, sowie die allerdings nur wohlhabenden Menschen mögliche Flucht aufs Land.
Wiederenteckung antiken Wissens in der Renaissance
Auch Boccaccio sei aber noch von der Vorstellung geprägt gewesen, dass Seuchen eine Strafe Gottes seien, so Kurt Schmidt. Zum Beispiel kommentierte Boccaccio die Fluchtbemühungen mit den Worten „als ob der Zorn Gottes die Menschen nicht überall erreichen könnte.“
Trotzdem bereiteten Werke wie seines der Renaissance, also der Wiederentdeckung antiker wissenschaftlicher Erkenntnisse, den Boden. Bereits in der Antike war bekannt gewesen, dass Seuchen sich durch das Berühren erkrankter Menschen, Tiere und Gegenstände wie auch durch das Einatmen „schlechter Luft“ – Miasmen – verbreiten.
Daher hätten im 14. Jahrhundert die großen Handelsstädte in Italien schon allein aus wirtschaftlichen Gründen effektivere Schutzmaßnahmen durch „Quarantäne-Verordnungen, Passierscheine und Gesundheitspässe“ etabliert, so Kurt Schmidt. Venedig etwa habe 1374 den Hafen für pestverdächtige Schiffe geschlossen und sie vor der Landung vierzig Tage außerhalb ankern lassen – daher kommt das Wort „Quarantäne“, abgeleitet vom italienischen Wort „quaranta“ – vierzig.
Quarantäne - die Vierzig als symbolische Zahl
Die Zahl vierzig setzte sich womöglich als verbreiteter Maßstab deshalb durch, weil sie sowohl in der Medizin als auch in der Religion eine bedeutende Rolle spielte, vermutet Schmidt. Der griechische Arzt Hippokrates habe bereits im vierten vorchristlichen Jahrhundert den Wendepunkt einer Krankheit nach vierzig Tagen angesiedelt. Auch in der Bibel werde an zahlreichen Stellen die Dauer von Bewährungsphasen mit vierzig Tagen angegeben: Während der Sintflut regnete es vierzig Tage lang, Mose verbrachte vierzig Tage auf dem Sinai, Jesus vierzig Tage in der Wüste. Der auferstandene Christus belehrte seine Jünger:innen vierzig Tage lang über das Reich Gottes, und vierzig Tage beträgt auch im Kirchenjahr die Zeit zwischen Ostern und Himmelfahrt.
Was den Umgang mit ansteckenden Erkrankungen anbelangt, so seien auch schon in der Hebräischen Bibel, im Kapitel 13 des dritten Buches Mose, etliche Anweisungen zu finden, so Schmidt. Unter anderem werde bei bestimmten Erkrankungen eine sieben- bis vierzehntägige Isolierung der Betroffenen angeraten, um die Gemeinschaft vor Ansteckung zu schützen. Die Diagnose hätten Priester gestellt, die auch den Krankheitsverlauf beobachteten und die Aufhebung der Maßnahmen bestimmten.
Hatte schon die Pest im 14. Jahrhundert die Autorität der Kirche stark angeschlagen, so sei das bis dahin vorherrschende Erklärungsmuster mit der Reformation und dem reformatorischen Menschenbild endgültig ins Wanken geraten. Statt weiterhin zu glauben, dass Schmerz und Erkrankung eine Folge von sündhaftem Verhalten sei – ob der Einzelnen oder der Gesellschaft – wurde zunehmend nach beweisbaren Ursachen und Handlungsmöglichkeiten gesucht: Die Naturwissenschaften kamen auf.
Die Säkularisierung der Seuchen
Kurt Schmidt beschreibt die Entwicklung in den folgenden Jahrhunderten als eine „Säkularisierung der Seuchen“. Nicht mehr göttliche Strafen oder böse Geister, sondern nur naturwissenschaftlich nachweisbare Ursachen wie Krankheitskeime werden anerkannt. In der Folge hätten sich ab dem 20. Jahrhundert Mediziner und Forscher zwar zu hochspezialisierten Gesundheitsexperten entwickelt, allerdings sei ihnen dabei „zugleich ein Konzept für die sinnhafte Bewältigung von Lebenskrisen verloren gegangen“, gibt Kurt Schmidt zu bedenken. Ohne Zweifel habe die naturwissenschaftlich ausgerichtete Medizin enorme Erfolge vorzuweisen. Allerdings könne sie nicht alles erklären, zum Beispiel nicht, „welchen Sinn eine Erkrankung, eine gesundheitliche Krise, ja das Leben als solches für den Einzelnen hat“. Hier blieben Religion, Kirche und Seelsorge wichtige Krisenbegleiter, die „nicht systemrelevant, sondern existenzrelevant“ sind.
Was bleibt: Die Suche nach Sinn
Tatsächlich sei diese Ambivalenz auch in der Corona-Pandemie deutlich geworden, glaubt Schmidt. Einerseits hätte die medizinische Forschung beeindruckend schnell Impfstoffe entwickelt, andererseits habe die Kenntnis der Krankheitsübertragung vielerorts zu gravierenden Einschränkungen bei den Besuchsregelungen in Alten- und Pflegeheimen sowie Krankenhäusern geführt. Auch diese Konflikte sind nicht neu: „Bei Boccaccio sind es die tragischsten und schmerzhaftesten Passagen, wenn er schildert, wie die Angst vor der Seuche in Florenz dazu führte, dass Vater und Mutter sich weigerten, ihre erkrankten Kinder zu besuchen und zu pflegen, als wären es nicht die ihrigen.“
Umso mehr berühre ihn der Einsatz des medizinischen Personals während der Corona-Pandemie. „Weltweit sind Pflegekräfte, Ärztinnen und Ärzte zu tröstenden Bezugspersonen geworden und haben mit ihrer Anwesenheit dafür gesorgt, dass Schwerstkranke nicht alleine sterben mussten“, erinnert Kurt Schmidt. Das von internationalen Medien verbreitete Foto des texanischen Chefarztes Joseph Varon, der einen betagten Corona-Patienten in den Armen hält, bedürfe keines Untertitels, um überall verstanden zu werden. „Klagen und Bitten vor Gott zu bringen, das hat keineswegs seine Bedeutung verloren.“
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