Muss man immer die Wahrheit sagen?
Eine Lüge ist wie ein ungedeckter Wechsel, der so lange herumgereicht wird, bis er beim Einlösen platzt: Wer „falsch Zeugnis redet”, wie es im Achten Gebot heißt (2. Mose 20,16), träufelt Gift in die Gemeinschaft. Nur Wahrheit schafft Vertrauen und Verlässlichkeit, und beides gehört zum Fundament einer funktionierenden Gemeinschaft: Lügen ist asozial. Deshalb kritisiert Jesus auch die Praxis, dass man vor Gericht nur die Wahrheit sagen muss, wenn man unter Eid steht. Das reicht nicht.
Umgekehrt ist allerdings „Wahrheit“ mehr als Offenheit oder Ehrlichkeit. Wahrheit orientiert sich nicht nur an bloßen Fakten, sondern auch am Wohlergehen der anderen und der Gemeinschaft. Auch Gottes Wahrheit hat nicht zuerst richtenden, sondern aufbauenden Charakter. Die Wahrheit soll helfen und nicht verletzen.
Fragt mich also die Nachbarin, ob sie „zu dick” sei, ist es mit einem einfachen Ja oder Nein nicht getan. Ich werde mit ihr über diskriminierende Begrifflichkeit sprechen, über die ganzheitliche Wirkung der Person und über ihre Selbstwahrnehmung. Die Wahrheit umfasst mehr Aspekte, als es auf den ersten Blick scheint.
Mitunter treffen zwei Wahrheiten aufeinander: Einer wollte nur das Beste, eine andere fühlt sich dadurch übergangen. Hier kann man versuchen, für die jeweils andere Sicht zu sensibilisieren und so zu einer gemeinsamen Wahrheit zu gelangen. Bei verhärteten Fronten („Lügenpresse!”) ist es allerdings bereits eine Herausforderung, unterschiedliche Wahrheiten wenigstens zu respektieren.
In Grenzsituationen ist es nicht leicht, zu entscheiden, wer Anspruch auf die Wahrheit hat. Keine Frage ist das, wenn ich ein Gewaltdelikt beobachte, meine Familie jedoch muss ich nicht belasten. Der Journalist ist seinen Informanten und die Pfarrerin dem Beichtgeheimnis mehr verpflichtet als der Polizei, und in einem autokratischen System bin ich den Glaubensgeschwistern mehr Loyalität schuldig als der Ideologie.
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