Lebensmittel retten macht glücklich
Mit Mundschutz und Gummihandschuhen ausgestattet stehe ich vor dem Kühlhaus. Der Supermarkt-Mitarbeiter öffnet die schwere Tür. Es ist Dienstag. Dienstag ist mein Abholtag als Lebensmittelretterin. Ich muss mich ranhalten, denn ich weiß nie, wie viele Kisten Obst, Gemüse und Milchprodukte im Kühlraum auf mich warten – eine oder zwanzig.
Jeden Tag schreiben Supermärkte Waren ab, bei denen das Mindesthaltbarkeitsdatum bald abläuft, die Verpackung beschädigt ist oder auch nur die Optik zu wünschen übriglässt. Aber immer mehr Menschen wollen diese Lebensmittel retten. So wie Rosi Reul, die im Frankfurter Stadtteil Riederwald meine „Chefin“ ist.
Ursprünglich war Reul Rechtsanwalts-Angestellte, eine Zeit lang Aussteigerin in Ibiza, führte dann ein Reisebüro und besaß zuletzt ein Bistro auf der Hanauer Landstraße. Jetzt als Rentnerin ist die Lebensmittelrettung ihr ehrenamtlicher Vollzeitjob. „Ich hatte immer den Gedanken des Teilens“, erzählt sie. „Ich habe überlegt, wie man Essen teilen kann und fing an, mich zu informieren und bin auf unterschiedliche Organisationen gestoßen, bei den ich meine ersten Erfahrungen gemacht habe.“ Das war vor zehn Jahren. Inzwischen hat die heute 65-Jährige ein eingespieltes Team, das täglich in Supermärkten wie Tegut, Denns Biomarkt oder Edeka Scheck-in abgeschriebene Ware abholt.
Mit den Marktleitungen hat Reul Verträge abgeschlossen und übernimmt ihnen gegenüber die Verantwortung. Auch dafür, dass keine Abholung ausfällt. „Mein Geheimnis liegt in der Zuverlässigkeit.“ Die Märkte machen mit, weil sie es wollen, nicht weil sie von der Lebensmittelrettung profitieren. „Sie sparen höchstens ein wenig Müllentsorgungskosten. In erster Linie ist es auch ihnen ein Anliegen, die noch guten Lebensmittel nicht zu verschwenden.“
Justin Dlugosch von Tegut bestätigt dies. „Als Markt sind wir weitgehend frei in unserer Entscheidung, was wir mit der Ware machen, die wir nicht mehr verkaufen können. Ausgenommen sind nur schnellverderbliche Lebensmittel wie Fleisch und Fisch sowie Warenrückrufe. Es ist eine bewusste Entscheidung von uns, nachhaltig zu handeln.“
Dass Lebensmittel nicht verbraucht werden, liegt nur zum Teil daran, dass sie in den Märkten nicht verkauft werden. Mindestens genauso viel wird von Privathaushalten ungenutzt weggeworfen, und vieles geht auch schon auf dem Weg von der Produktion in den Verkauf verloren. Das Lebensmittelretten ist also nur eine von mehreren Stellschrauben, an denen gedreht werden kann.
Bei der Weitergabe von Lebensmitteln müssen sich auch private Initiativen an das Lebensmittelrecht halten und etwa Lebensmittelsicherheit und Rückverfolgbarkeit garantieren. Rosi Reul kennt die Rahmenbedingungen natürlich gut. Als Einzelperson wäre sie aber nie so weit gekommen. Manche Produkte müssen in Kühlschränken gelagert werden, einiges wird vorübergehend eingefroren. 2014 konnte Reul die katholische Gemeinde im Riederwald von ihrer Idee überzeugen und dort einen Raum nutzen. Als später zusätzliche Kühl- und Gefrierschränke benötigt wurden, sprang das Quartiersmanagement Riederwald der evangelischen Kirche ein, das Vereine und Initiativen im Stadtteil unterstützt.
Verteilt werden die eingesammelten Lebensmittel immer dienstags von 10 bis 12 Uhr hinter der katholischen Heilig-Geist Gemeinde in der Schäfflestraße 19. „Niemand muss dafür bedürftig sein oder einen Einkommensnachweis vorlegen. Es geht hier darum, diese tollen Produkte zu retten“, stellt Rosi Reul klar. 1,50 Euro kostet eine große Kiste mit gemischten Waren, das Geld wird für die Fahrtkosten genutzt.
Bereits morgens um acht trifft sich Reul dienstags mit anderen Freiwilligen an der Kirche, um die Ware vorzubereiten, die Warenkörbchen zusammenzustellen und draußen Tische und Schirme aufzubauen. Mit dabei ist dann auch Sven, der früher selbst ein Abholer bei Rosi war. Er findet das Projekt toll: „Es ist unbürokratisch, liebevoll und nachhaltig. Und ich lerne immer wieder neue Gemüsesorten kennen“, erzählt er und lacht. Ebenso die 61 Jahre alte Ute. Die Riederwälderin sagt: „Mir macht das einfach Spaß. Ich komme raus und tue was Gutes.“ Manuela kam als Studentin für Soziale Arbeit zunächst wegen einer Recherche zum Projekt, jetzt macht sie mit. Sophie ist ebenfalls Studentin und hörte irgendwann von den veganen Lebensmitteln, die man bei Rosi bekommen kann. Die sind im Handel sehr teuer, und die Studentin kam fortan zum Dienstagsverteiler. Heute hilft auch sie mit.
Die Riederwälder Initiative ist mittlerweile weit über den Stadtteil hinaus bekannt. Schon Stunden vor der offiziellen Ausgabe kommen um die dreißig regelmäßige Kund:innen und sitzen mit mitgebrachtem Kaffee in weißen Plastikstühlen. Sie haben ganz unterschiedliche Motive. Heidi berichtet von ihrer Krebserkrankung und der Grundsicherung, die nicht zum Leben reicht. „Wenn ich das hier nicht hätte, dann würde ich nicht über die Runden kommen.“ Jürgen wartet bis ganz zum Schluss, bis alle anderen sich ihre Ware abgeholt haben. Der 70 Jahre alte Witwer sagt, er komme gut mit seiner Rente zurecht. „Aber ich bin absolut gegen Verschwendung und nehme dann für mich, was übrig ist.“ Übrig sind manchmal auch Salat oder Karotten. Die füllt dann Manfred in Säcke ab und nimmt sie für seine Hühner und Hasen mit. „Die freuen sich!“
Wenn es mal gar zu viele Lebensmittel sind, funkt Rosi Reul andere Lebensmittelorganisationen an, die diese dann über ihre eigenen Systeme weiterverteilen. Auch wir Abholer:innen verteilen zusätzlich die mitgebrachten Waren noch auf eigene Faust an Nachbarn und Freundinnen weiter. Denn beim Lebensmittelretten ist das Verteilen, nicht das Beschaffen, der Engpass.
Hier im Riederwald sind wir inzwischen ein eingespieltes Team. Alle packen an, helfen mir ausladen. Rezeptideen werden ausgetauscht, man trifft und unterhält sich kurz, manchmal macht meine Freundin mir noch schnell einen Kaffee Latte.
Einmal kam eine ältere Frau vorbei und fragte, was wir hier tun. Sie verstand sofort und steckte mir zehn Euro Spende in meine Jackentasche. Sie bestand darauf. Denn auch sie war einfach glücklich darüber, dass Lebensmittel gerettet werden.
Lesen Sie zum Thema auch unser Interview mit Bundesentwicklungsminister Gerd Müller.
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