„Diese Generation hat Bock auf Poesie“ - warum ein Poetry-Slammer im Altenheim auftritt
„Auf ner saftig grünen Wiese, weidet ausgerechnet diese eine Kuh…“ deklamiert Lars Ruppel. „Eine Kuh, eine Kuh“, antworten die Menschen in einem Kreis aus Stühlen. „Und das Maul bewegend, schaut sie dämlich in die Gegend, grad wie Du.“ „Grad wie du.“ Manche müssen lachen. Heinz Erhardt geht immer. Auch im Gymnastiksaal eines Pflegeheims.
Normalerweise steht der Poetry-Slammer Lars Ruppel auf einer anderen Art von Bühne. In Universitäten. Auf Festivals. In Kulturzentren. Vor Publikum aus studentischen jungen Männern und Frauen mit großen Brillen und großen Taschen. Heute steht der 32-Jährige vor Pflegekräften und Bewohnerinnen und Bewohnern des Oberin-Martha-Keller-Hauses in Sachsenhausen
Die alten Menschen im Stuhlkreis leiden an Demenz. Vielleicht wissen sie nicht mehr, dass sie eben noch einen Kaffee getrunken oder aus dem Fenster geschaut haben. Aber über Heinz Erhardt können sie lachen. Bei Gedichten können sie mitsprechen, können die letzten Worte einer Zeile aus dem Kopf ergänzen, sich dem Rhythmus hingeben.
Die Freude über Reime, über toll klingende Zeilen, steckt wohl tiefer in uns drin als das Kurzzeitgedächtnis. Lars „Poesie kann in das tägliche Leben von Menschen mit Demenz integriert werden. Mit ihr lässt sich etwas transportieren, was über die reinen Worte hinausgeht“, sagt Ruppel. Mitgebracht hat er Gedichte von Heinz Erhardt, Joachim Ringelnatz, Christian Morgenstern, Heinrich Heine und Kurt Tucholsky. „Man kann aber auch genauso gut jedes andere Gedicht vortragen.“
Viele Pflegekräfte kennen kaum noch Gedichte
Ruppels Projekt „Weckworte“ richtet sich auch an Pflegekräfte. Viele von ihnen sind jung und haben in ihrer Schulzeit selbst nur noch wenige Gedichte kennengelernt. Oder sie haben im Deutschunterricht die Lust an der Poesie verloren. Zwischen ihnen und der älteren Generation gibt es bei dem Thema also einen kulturellen Graben.
Die „Weckworte“ sollen diese Differenz überbrücken helfen. „Das Herz ist nicht dement, heißt es in der Pflege“, sagt Lars Ruppel, und irgendwo in den Menschen drin müsse es einen Bereich für Poesie geben, der intakt bleibe, ansprechbar bleibe. „Die Generation, die gerade gepflegt wird, hat tierisch Bock auf Poesie“, hat er in einem Radiointerview mal gesagt, und, etwas feiner ausgedrückt: „Gedichte gehören zur kulturellen Identität der Senioren.“
Fünf Frauen und ein Mann, zwischen 70 und 100 Jahre alt und in verschiedenen Stadien der Demenz, schauen Lars Ruppel an. Der plaudert fröhlich drauflos, dreht sich im Stuhlkreis, schüttelt Hände. Es gilt, die Aufmerksamkeit zu erhalten. „Sehr verehrte Damen und Herren, wir begrüßen Sie zu unserer kleinen poetischen Kaffeefahrt, wollen Sie einen Kaffee? Mit Milch? Von der Kuh? Okay, von der Kuh…“
Die Pflegekräfte lesen ebenfalls laut vor. „Ich weiß nicht, was soll es bedeuten, dass ich so traurig bin…“, deklamiert eine Auszubildende. Heinrich Heines „Loreley“: Wer in den 1920er oder 1930er Jahren geboren wurde, kennt diese Zeilen. Köpfe werden gehoben, mehrere Bewohnerinnen sprechen gleich mit: „Ich glaube, die Wellen verschlingen, am Ende Schiffer und Kahn; Und das hat mit ihrem Singen die Loreley getan.“
Pflege ist mehr als satt und sauber, sie ist auch Kultur
Die „Morgenwonne“ von Joachim Ringelnatz wiederum lässt sich kaum ohne Bewegung vortragen: „Ich bin so knallvergnügt erwacht. Ich klatsche meine Hüften. Das Wasser lockt. Die Seife lacht. Es dürstet mich nach Lüften…“ Durch die neu entdeckte Freude am gesprochenen Wort könnten Gedichte zum festen Bestandteil in der Pflege von Menschen mit Demenz werden. Deshalb geht es den „Weckworte“ auch darum, die Pflege kulturell aufzuwerten. Sie ist eben mehr als satt und sauber.
Die Poesie, das lässt sich an diesem Nachmittag erahnen, weckt Menschen für einen Moment aus ihrer Demenz, führt zu klaren Augenblicken und zeigt, wie Worte wirken. Gedichte können Menschen, die den Bezug zur Realität verloren haben, helfen – weil Poesie nicht nur die hohe Kunst der Literatur und Sprache in einer verdichtenden Form ist, sondern weil Gedichte auch Therapie sein können. Kreativ gesetzte Worte und Verse öffnen den Weg ins Hier und Jetzt, gerade dann, wenn man die Poesie noch aus der Kindheit kennt.
„Wir wollen die Pflegekräfte mit diesem Workshop dazu befähigen, nicht nur die physische Versorgung zu leisten, sondern auch die emotionale“, sagt Silke Wiegand, die Leiterin des Bereichs Soziale Betreuung im Oberin-Martha-Keller-Haus.
Gedichte sind klar strukturiert, das gibt Orientierung
Kultur gehört zur Identität von Menschen. Davon ist Lars Ruppel überzeugt. Der freie Vortrag und die direkte Ansprache sind bei einem kognitiv eingeschränkten Publikum besonders wichtig. Läse Ruppel aus einem Buch vor, würden sich seine Zuhörerinnen und Zuhörer vielleicht verständnislos abwenden. Demenzkranke suchen nach Ordnung im Chaos ihrer Wahrnehmung. Und was sich mit Worten in schöne, griffige Zeilen wandeln lässt, verliert an Schrecken. Gedichte sind klar strukturiert. Das erleichtert die Orientierung, auch wenn der genaue Inhalt verschwimmt.
Es geht nicht darum, dauerhaft das Denkvermögen zu verbessern, das ist unmöglich. Ein Gedicht kann die Demenz nicht heilen. Auch keine Erinnerungen hervorzaubern. Aber vielleicht ein Gefühl wecken aus der Zeit, als man vorm Schlafengehen einem geliebten Menschen lauschte – und sich beschützt wusste.