Infektionsschutz oder Nähe? Warum gerade alte Menschen jetzt beides brauchen
An vielen Litfaßsäulen hängt großflächig Werbung für das Hessen-Seniorenticket. 365 Euro im Jahr – freie Fahrt in ganz Hessen, verfügbar seit Januar 2020. Viele alte Menschen werden sich darüber gefreut haben – und das Ticket letztlich kaum haben nutzen können. Denn der Lebensradius alter und vor allem hochaltriger Menschen ist pandemiebedingt zusammengeschrumpft. Und das ist nichts, was sich so leicht verschmerzen ließe. Denn so unwägbar die Dauer der Pandemie, so gewiss die relative Überschaubarkeit der verbleibenden Lebenszeit.
Die Einschränkung der Mobilität und der Verlust des aktiv erreichbaren Lebensumfeldes verletzt den Stolz vieler alter Menschen und dämpft ihre Vitalität, beobachtet Gita Leber, Pfarrerin der Frankfurter Katharinengemeinde. „Die Selbstverständlichkeit des selbst gestalteten Lebens ist verloren gegangen“, sagt sie. Es fehle das Beiläufige in den alltäglichen Begegnungen – hier ein Gespräch, dort ein kurzes Treffen, das spontane Miteinander, das Menschen das Gefühl gibt, eingebunden zu sein und wahrgenommen zu werden.
Wie kann Zuwendung und Gemeinschaftsleben auch unter den Bedingungen einer Pandemie glücken? Wie gehen wir um mit dem Konflikt zwischen Infektionsschutz und Selbstbestimmung, zwischen Schutzbedürfnis und Nähebedürfnis, der in all unseren Beziehungen, vor allem aber im Umgang mit den älteren und kranken Menschen eine Rolle spielt?
Erika Göhrmann wohnt an der Offenbacher Stadtgrenze und hat bis zum Frühjahr täglich ihre 98 Jahre alte Mutter im Elisabeth-Maas-Haus besucht, häufig zur Mittagszeit, meist mit anschließendem Spaziergang im Garten. Für alte und besonders für demenziell veränderte Menschen wie ihre Mutter, die zudem stark sehbehindert ist, sind Vertrautheit und Nähe nur über die Stimme und körperliche Nähe erfahrbar.
„Dass meine Mutter mich nicht erkennt, das macht mir nichts aus, das Wichtige ist ja, dass sie spüren kann, dass da jemand Vertrautes ist, der nach ihr schaut, sie berührt und sich um sie kümmert“, sagt Erika Göhrmann. Fenstertreffen – sie draußen vor der Terrassentür, die Mutter drinnen, verängstigt in ihrem Rollstuhl – waren für sie eine erschütternde Erfahrung: „Meine Mutter wusste ja gar nicht, was passiert.“
Die Pflegenden tun ihr Mögliches, aber das ist auch aufgrund der dünnen Personaldecke sehr begrenzt. Die Vorstellung, dass ihre Mutter sich zutiefst verlassen fühlen muss, beschäftigt Erika Göhrmann. Zum Zeitpunkt unseres Gesprächs Mitte Oktober war das Elisabeth-Maas-Haus aufgrund der steigenden Infektionszahlen schon wieder nach außen abgeschlossen. Geöffnet war es zwischendurch nur einige Wochen, gerade so lange, dass Erika Göhrmann den Kontakt zu ihrer Mutter wieder aufnehmen konnte und von ihr wiedererkannt wurde.
Pfarrerin Silke Peters ist im Stadtdekanat Frankfurt und Offenbach für die Altenseelsorge zuständig. Wenn Besuche von außen in den Heimen nicht möglich sind, können immerhin die Seelsorgerinnen und Seelsorger die alten Menschen besuchen. „Sie können über Gespräche und geistliche Angebote Verlässlichkeit und Struktur anbieten.“ Das ist natürlich kein Ersatz für die vertrauten Angehörigen, aber wenigstens etwas.
Und: Die Politik hat aus den Erfahrungen im Frühjahr gelernt und will keine generellen Besuchsverbote mehr verhängen. Sterbende und Schwerstkranke sollen immer besucht werden dürfen. Auch Erika Göhrmann darf ihre Mutter inzwischen wieder besuchen, immerhin zweimal pro Woche zu festen Zeiten.
Aber die Balance zwischen Nähe und Infektionsschutz bleibt eine Herausforderung, ob nun für professionelle Seelsorger:innen oder für Angehörige, die abwägen müssen, welche Risiken sie eingehen. Denn die Gefahr ist ja nicht weg: Auch in Frankfurter Heimen hat es bereits wieder Corona-Ausbrüche gegeben. Und noch immer sind vor allem alte Menschen gefährdet, an einer Covid-19-Erkrankung zu sterben.
„Es kommt mir vor wie eine Jonglage, die ich noch nicht einmal mit drei Bällen hinbekomme, aber jetzt hat mir das Leben fünf in die Hand gegeben“, sagt Christoph Rahlwes, Pfarrer im Agaplesion Bethanien-Krankenhaus in Frankfurt-Bornheim. Im Seelsorgegespräch legt er bei orientierungslosen oder sterbenden Menschen auch trotz Corona mal kurz die Hand auf den Arm. Ohne Berührung geht es manchmal einfach nicht. Rahlwes versucht, diesen Zwiespalt und die damit verbundene Schuldfrage auszuhalten. Er entscheidet immer wieder neu, wie viel Risiko er eingeht, so wie im Frühjahr, als er eine sterbende Leukämiepatientin begleitet hat, die an Corona erkrankt war, „obwohl ich hinter meiner OP-Maske eine Riesenangst hatte.“ Schützende FFP2-Masken waren damals nicht verfügbar.
Große Hoffnungen setzen manche auf Antigen-Schnelltests, um das Ansteckungsrisiko einzudämmen. Allerdings braucht man dafür medizinisch geschultes Personal, wie Silke Peters betont. Deshalb müssten zusätzliche Kräfte für die Durchführung dieser Tests gewonnen werden, damit Schutz und Begegnung nicht in Widerspruch geraten.
Manchmal komme es auch auf die Perspektive an. „Ich hoffe auf so etwas wie eine paradoxe Wirkung des Lockdowns light“, sagt Peters: „Wenn das gesellschaftliche Leben heruntergefahren ist, wird der öffentliche Raum überschaubarer. Menschen, die sonst wenig hinausgehen, weil es ihnen zu hektisch, voll und unübersichtlich ist, trauen sich dann vielleicht eher, sich draußen aufzuhalten. Alleine spazierzugehen, auf einer Bank zu sitzen oder auf andere Weise in Erscheinung zu treten.“
Auch Erika Göhrmann weiß, dass es oft nur wenig braucht, um einen alten Menschen glücklich zu machen. Wenn sie davon erzählt, wie ihre Mutter sich freut, wenn sie zusammen sein können, strahlt sie.
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