Essen retten: Damit Lebensmittel auf dem Teller und nicht in der Tonne landen
Eine gesicherte Versorgung mit Lebensmitteln rund um die Uhr, billiges Fleisch aus dem Supermarkt, frische Backwaren von morgens bis abends – die wenigsten möchten darauf verzichten. Wir haben uns an den Überfluss gewöhnt: Lebensmittel von allen Kontinenten der Welt. Erdbeermarmelade von zehn unterschiedlichen Herstellern. Butter in phantasievollen Varianten. Leckereien, weiter als das Auge reicht.
Solche Massen bekommt man bei bestem Willen nicht an die Leute. Zwei bis drei Mal am Tag wird in Supermärkten vermeintlich Ungenießbares aussortiert und dabei akribisch auf das Mindesthaltbarkeitsdatum geachtet. Auch Obst und Gemüse mit kleinsten Schönheitsfehlern fällt der Kontrolle zum Opfer. Leider. Aber wer will das schon kaufen?
Was aussortiert wird, landet im Müll. Pro Kopf werden in Deutschland im Schnitt jedes Jahr 82 Kilogramm Lebensmittel weggeworfen. Eine Zahl, die man sich gerade zum Erntedankfest einmal ins Bewusstsein rufen kann. Manches davon ist wirklich ungenießbar, wie zum Beispiel Abfälle vom Gemüseputzen oder abgenagte Hähnchenknochen. Vieles andere – je nach Maßstab die Hälfte bis zwei Drittel – wäre aber durchaus noch zu gebrauchen.
„Das Mindesthaltbarkeitsdatum ist eine Gewährleistungspflicht der Hersteller“, erklärt Thomas Berndt. „Es bedeutet nicht, dass das Produkt nach Ablauf ungenießbar ist.“ Berndt ist Botschafter des Vereins „Foodsharing“, einer 2012 gegründeten bundesweiten Initiative zur „Rettung“ von Lebensmitteln. Über die Internet-Plattform foodsharing.de vernetzen sich Menschen auch in Frankfurt, um Lebensmittel, die sonst weggeworfen würden, zu verteilen und weiter zu verwenden.
Berndt ist inzwischen ein echter Experte auf dem Gebiet geworden – der 40-Jährige liest alles zum Thema. „Genießbare Lebensmittel gehören nicht in die Tonne, sondern auf den Teller!“ ist er überzeugt. Das erklärt er auch den Menschen, wenn er in Bornheim Mitte am Uhrtürmchen steht. Korb an Korb aufgereiht bietet er dort Backwaren an. Auch Obst und Gemüse sind dabei. Sogar Schnittblumen. „Eine wunderbare Gelegenheit, um ins Gespräch zu kommen und eine Art Aufklärungsarbeit zu leisten.“ Einige Abnehmerinnen und Abnehmer findet er heute, alles geht nicht weg. „Die Leute sind auch skeptisch.“ Es ist gar nicht so leicht, Essen zu verschenken.
Der Verein Foodsharing kooperiert mit Märkten und organisiert, dass die überschüssigen Lebensmittel dort abgeholt werden. Verteilt werden sie dann an Ehrenamtliche wie zum Beispiel Heike (47) aus Höchst, die an einem warmen Sommerabend im Gallus anpackt und viele Kisten mit Obst und Gemüse in ihrem Kleinwagen verstaut. Nachdem sie sich dem Verein angeschlossen hatte, ist sie durch einen „Foodsaver“ in die Abholung von Lebensmitteln bei einem Supermarkt eingewiesen worden. Dann hat sie in ihrer Nachbarschaft Menschen gesucht, die ihr die Lebensmittel abnehmen. Einige Kisten bringt sie vorher in das Wohnwagen-Camp für geflüchtete Menschen auf dem Rebstockgelände. Eine andere Aktive, die heute hier ist, ist Nathalie (33). Sie ist der Überzeugung: „Nicht nur Leute aus der alternativen Szene sollten sich der Lebensmittelrettung widmen.“ Nathalie verteilt die Avocados, Salate, Champignons, Melonen und Kirschen, die sie abholt, an Familien in Sossenheim.
Thomas Berndt ist als „Botschafter“ des Vereins dafür zuständig, neue „Foodsaver“ einzuweisen, Probeabholungen bei kooperierenden Supermärkten zu organisieren, Ansprechpartner bei Problemen zu sein. Alles ehrenamtlich. Rund 2000 Aktive gibt es inzwischen im Rhein-Main-Gebiet, die von drei Botschaftern betreut werden. Tendenz steigend.
Foodsharing verteilt die geretteten Lebensmittel an alle, die Interesse haben; auf soziale Bedürftigkeit kommt es nicht an. „Das unterscheidet uns von der Tafel“, erklärt Berndt. Deren Prinzip ist es, überschüssige Lebensmittel an Menschen zu verteilen, die aus unterschiedlichen Gründen nicht ausreichend mit Essen versorgt sind, an Arme und Bedürftige also. Wie Foodsharing kooperiert die Tafel dafür mit Märkten und Händlern. Damit sich die beiden Initiativen nicht in die Quere kommen, gelte eine einfache Regel, sagt Berndt: Die Tafel hat immer Vorrang. „Bei gemeinsam angefahrenen Supermärkten wird erst von der Tafel abgeholt und dann von unseren Foodsavern.“ Allerdings: Auch viele Rentnerinnen, Arbeiter oder Angestellte mit geringem Einkommen nutzen die Chance, sich beim Foodsharing mit Lebensmitteln zu versorgen. Es ist eine Möglichkeit, wenn man zwar jeden Cent umdrehen muss, aber offiziell nicht als bedürftig eingestuft ist.
Auch mit anderen Projekten kooperiert die Initiative, zum Beispiel mit dem Verein „Shout Out Loud“. Der hat sich zum Ziel gesetzt, gängige Konsummuster in Bezug auf das tägliche Essen zu hinterfragen. Die Idee mit den „Fair-Teiler-Stationen“ für Lebensmittel, die aus den Kühlschränken der Nachbarschaft übrig bleiben, hat allerdings nicht funktioniert. Heute organisieren die Aktiven des Vereins vor allem Treffen, entwickeln Events und bieten sich als Plattform für neue Ideen an.
Schnippelpartys, Volxküchen, Mittagstisch für alle: Mit vielfältigen Aktionen versuchen Aktive dafür zu sorgen, dass die geretteten Lebensmittel auch verarbeitet werden. Initiiert von Foodsharing findet einmal im Monat im katholischen Gemeindehaus von St. Wendel in Sachsenhausen eine „Volxküche“ statt. Thomas Berndt ist begeistert: „Ich finde es immer wieder unglaublich, welch leckere Kreationen aus den vorhandenen Lebensmitteln gezaubert werden.“ In der evangelischen Gethsemanegemeinde im Nordend wird unter dem Titel „Integration geht durch den Magen“ regelmäßig gemeinsam gekocht und gegessen. Dabei geht es nicht nur um die Rettung der Lebensmittel, sondern auch um Gemeinschaft, um Solidarität.
Im Speisesaal der methodistischen Christuskirche am Merianplatz herrscht einmal in der Woche reges Treiben. Hier gibt es schon seit 2003 einen „Mittagstisch für alle“. Pastor Uwe Sasnowsky dankt mit einem Tischgebet für die Lebensmittel und wünscht dann allen Gästen einen guten Appetit. Die meisten Ehrenamtlichen hier sind von Anfang an dabei. In der evangelischen Dreikönigsgemeinde in Sachsenhausen holen engagierte Gemeindemitglieder einmal pro Woche überschüssige Backwaren von einer Frankfurter Bäckereikette ab und geben sie an Bedürftige.
„Die Damen, die den Verteiler aufgebaut haben, waren anfangs skeptisch. Alle sind um die 70 Jahre alt und haben sich das auf Anhieb nicht zugetraut – die Körbe zu schleppen. Übriggebliebenes weg zu organisieren“, sagt Pfarrerin Silke Alves-Christe. „Jetzt klappt alles doch recht gut. Aber wir suchen Nachwuchs. Mit mehr Menschen, die sich engagieren, könnten wir den Verteiler ausbauen. Das wäre eine tolle Sache.“
Jüngere werfen besonders viel Essen weg
Jüngere Menschen werfen laut einer Analyse des Instituts der deutschen Wirtschaft häufiger Essen weg als Ältere, zumindest nach eigenen Angaben: Nur 8 Prozent der unter 50-Jährigen sagen, dass sie „niemals“ Lebensmittel wegwerfen, aber 33 Prozent der über 70-Jährigen. Bei der Generation dazwischen sind es um die 20 Prozent. Unterschiedlich ist auch das Wissen über Lebensmittel: Drei Viertel der Älteren sind sich darüber im Klaren, dass viel weggeworfenes Essen noch genießbar wäre, aber nur gut die Hälfte der Jüngeren. Auch andere Faktoren spielen eine Rolle: Wenn Kinder im Haushalt leben, wird häufiger Essen weggeworfen. Unter dem Motto „Zu gut für die Tonne“ wirbt die Bundesregierung dafür, bis 2030 die Lebensmittelabfälle zu halbieren. Mehr Infos unter www.zugutfuerdietonne.de.
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