Ethik & Werte

Du sollst kein Fake sein

Wann ist es eigentlich so pervers normal geworden, zu lügen, zu täuschen, vorzumachen, ja ganze Lügenwelten vor den Augen seiner Mitmenschen erstehen zu lassen?

Foto: colourbox.com
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Mit anderen und sich selbst offen und ehrlich umzugehen, ist – so scheint es – für einige Menschen deutlich weniger naheliegend und lebbar, als eine Art Fake-Ich zu erfinden und dafür keine Kosten und Mühen zu scheuen. Sinn und Zweck des Ganzen ist vor allem, größer, smarter, wohlhabender, erfolgreicher und attraktiver zu erscheinen, als das eigene, gefühlt klägliche, kleine, reale Ich es je sein könnte.

Wo so ein großes Bedürfnis ist, ist das Geschäftemachen damit nicht weit. Die Idee ist nicht neu: Sogenannte Alibi-Agenturen zum Beispiel bieten ihre Dienste in mannigfaltiger Weise an. Zum Beispiel während des ersten Dates einen fingierten Telefonanruf des „Brokers“, der zum Kauf von Aktien rät. Oder einen Postkartenversand aus Wien vom „beruflichen Termin“ an den eigenen Mann, während man in Wahrheit ganz woanders war. Diplome, Auszeichnungen, Scheinarbeitswelten, Doppelleben-Identität – nach Bedarf und Geldbeutel kann man sich jede Art von Ego-Aufpolierer und Lügenkonstrukt kaufen. Ich frage mich dann immer, wie nachhaltig so was eigentlich gedacht ist? Ich meine, wenn ich meiner Partnerin nicht sagen will oder kann, dass ich gekündigt wurde, dann stimmt doch was ganz Anderes nicht. Mit mir und mit der Partnerschaft. Wenn ich beim Tinder-Date vorgebe, jemand anderer zu sein – wann genau habe ich vor, die Katze aus dem Sack zu lassen? Wenn der andere sich eingelassen hat, mir vertraut? Meine Prognose für eine solche Beziehung ist eher schlecht. Aber vielleicht geht es ja auch gar nicht um Substanz in diesem Sinne, nur um den Moment, und nur dafür muss das Kartenhaus stabil genug sein. Du sollst kein falsches Zeugnis ablegen. Das gilt doch auch für die eigene Person. Übrigens – das ist alles legal. Straftatbestand wäre ein falsches Ausbildungszertifikat nur, wenn man es im Berufsleben benutzt, um sich Vorteile zu verschaffen. Im Privatleben „darf ich auch sagen, dass ich der Kaiser von China bin“, so die Antwort einer dieser Agenturen im Radio-Interview. Ich sag mal: Wo bloß Menschen geschädigt werden, ist ja nix Schlimmes passiert. Wenn die Wirtschaft Schaden nimmt, hört der Spaß aber auf. Geht's noch? Wir sollten uns selbst und andere meiner Meinung nach immer ermutigen, zuallererst zu sich selbst zu stehen und zu unseren unperfekten Leben. Und wir sollten Aufrichtigkeit, Verletzlichkeit und Wahrhaftigkeit praktizieren. Alles andere ist nicht nur falsch, es ist auch vergeblich und Zeitverschwendung für alle Beteiligten. Erich Fromm hat dazu was Schönes gesagt: „Die Lüge berührt nicht die Wirklichkeit. Die Lüge bewegt nichts. Man kann tausend Lügen daherbringen, es tut sich nichts, weil man etwas Fiktives, etwas Unwirkliches berührt. Sobald man aber die Wahrheit sagt, versucht etwas im Menschen zu antworten ...“


Autorin

Sandra Hoffmann-Grötsch ist Journalistin in der Öffentlichkeitsarbeit der Evangelischen Kirche in Frankfurt und Offenbach.