Anderen helfen ist ganz normal
Menschen brauchen Hilfe. Ohne Zuwendung kann niemand überleben. Jeder kann einmal krank werden, einen Unfall haben, die Stelle gekündigt bekommen oder die Wohnung verlieren. Was aber bringt uns dazu, anderen in Not zu helfen? Das Gesetz, die Moral, die Religion, die Gene – oder einfach die Vernunft? Wahrscheinlich eine Mischung von allem.
Allerdings muss Hilfsbereitschaft gewissermaßen kultiviert werden. Wenn in einer Gesellschaft die Idee dominiert, dass jeder „sich selbst der Nächste“ sei, wächst die Gefahr, dass die Menschen sich tatsächlich nicht mehr kümmern. Denn klar: Für die Einzelnen ist es oft verlockend, einfach wegzuschauen. Weiter zu gehen, so wie der Priester und der Levit in der Geschichte vom barmherzigen Samariter, eine der bekanntesten Erzählungen aus der Bibel (Lukasevangelium Kapitel 10, 35-37): Jesus wird gefragt, was man tun könne, um das ewige Leben zu haben, und antwortet mit dem berühmten christlichen Doppelgebot: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Aber, wird er weiter gefragt: Wer ist denn mein Nächster?
Durch gegenseitige Hilfe entsteht Zusammenhalt
Die Geschichte vom barmherzigen Samariter gibt darauf die Antwort. Denn in dieser Geschichte ist es ein Fremder, ein Ausländer, ein Migrant, der einem ausgeraubten Schwerverletzten hilft. Nicht die vorübergehenden Landsleute und Würdenträger. Die Geschichte ist also nicht nur eine Mahnung, sich um Menschen in Not zu kümmern, sondern mehr noch: Nach christlicher Ethik entsteht Zusammenhalt nicht dadurch, dass Menschen zu einem Volk oder einer Nation oder einer Religion gehören. Sondern dadurch, dass sie sich umeinander kümmern.
Aber auch in christlich geprägten Gesellschaften sind Einwände, wie damals der Priester und der Levit sie vorgebracht haben, nicht ausgestorben: Keine Zeit. Keine Lust. Dafür bin ich nicht zuständig. Das rechnet sich nicht. Soviel Hilfsbereitschaft können wir uns nicht leisten. Und vor allem: Hat der das überhaupt verdient?
Es ist allerdings nicht nur einfach Egoismus, der hinter solchen Einwänden steht. Aus einer realpolitischen Perspektive ist es ein durchaus ernst zu nehmender Einwand, dass man als einzelner Mensch oder einzelnes Land nicht allen Notleidenden helfen kann. Insofern enthält die religiöse Hoffnung darauf, dass das sehr wohl möglich ist, immer auch so etwas wie einen utopischen Überschuss: Wetten, dass? „Ja, das geht, mit Gottes Hilfe“ sagen die Frommen. Die „Heiden“ hingegen, also diejenigen, die das nicht glauben, finden so viel Gottvertrauen „eine Torheit“, wie schon der Apostel Paulus wusste.
Alle Religionen machen sich über das Helfen Gedanken
Das Thema des Helfens ist jedenfalls so zentral für die Menschheit, dass sich sämtliche Religionen und Philosophien darüber Gedanken gemacht haben. Und nicht nur das Christentum, auch alle anderen haben gute Gründe und Motivationen gefunden, warum Menschen anderen Menschen helfen, und zwar nicht nur dann, wenn sie auch selbst etwas davon haben oder es ihnen leicht fällt. Sondern gerade auch dann, wenn es schwer fällt und der Nutzen für die Helfenden selbst nicht so ohne weiteres ersichtlich ist.
Auch Judentum und Islam gehen davon aus, dass die Hilfe für andere ein Gebot Gottes ist. „Brich dem Hungrigen dein Brot" heißt es unmissverständlich in der Hebräischen Bibel. Zahlreich sind darin die Gebote, die sicherstellen sollen, dass Arme, Ausländer, Kranke und andere Bedürftige in Würde leben können. Im Islam ist die Armensteuer – neben dem Glaubensbekenntnis, dem Gebet, dem Fasten und der Pilgerfahrt – eine von fünf Pflichten, die alle Gläubigen erfüllen müssen. Ähnlich wie im Judentum ist das Spenden und Helfen kein Gnadenakt der Reichen, sondern ein Rechtsanspruch der Armen. Es ist Geld, das ihnen zusteht.
Auch Hinduismus und Buddhismus kennen die Hilfe für andere als Ausdruck von Religiosität, obwohl es hier keinen obersten Gott gibt, der das befiehlt. Vielmehr ist die Hilfe für andere ein sichtbares Zeichen, dass alle Menschen untereinander verbunden sind: Was anderen schadet, das schadet auch mir. Mildtätigkeit ist daher neben Bildung, Entsagung und Wahrheitsliebe ein wichtiger Pfeiler der hinduistischen Kultur. Zudem geht man davon aus, dass Menschen wiedergeboren werden, daher kann das rechte Spenden und Helfen auch im nächsten Leben nützlich sein. Im Buddhismus gelten Geiz und Gier als einer von drei Gründen für das Leid auf der Welt – die anderen beiden sind Unwissenheit und Hass. Auch hier knüpfen sich daran zahlreiche Regeln, wie und wo anderen zu helfen ist.
Egal ob Kirchen, Synagogen, Moscheen oder Tempel und Klöster – fast überall auf der Welt haben sich an den Orten institutionalisierter Religiosität Hilfsangebote für Arme, Obdachlose, Kranke und Ausländer angesiedelt. Dass die Einzelnen ihrer Pflicht zum Helfen tatsächlich nachkommen, wird von der religiösen Gemeinschaft gewissermaßen „überwacht". Wer anderen nicht hilft, muss mit Strafen rechnen – angefangen bei sozialer Ächtung bis hin zu Androhungen wie der Hölle oder einem schlechten Karma im nächsten Leben.
Braucht man für Hilfsbereitschaft einen Bezug zu Gott?
Was aber, wenn die Menschen nicht mehr glauben? Wenn sie vor der Hölle oder dem nächsten Leben keine Angst mehr haben und deshalb egoistisch werden? Wenn man die Leute machen ließe, was sie wollen, dann drohe ein „Krieg jeder gegen jeden", glaubte der englische Philosoph Thomas Hobbes im 17. Jahrhundert und begründete so die Notwendigkeit eines starken Staates mit Gesetz und Polizei. Sein Kollege Immanuel Kant war da ein Jahrhundert später optimistischer. Er meinte, dass die Menschen von selbst hilfsbereit wären – weil das nämlich vernünftig ist. „Handle stets so, dass die Grundlage deines Handelns ein allgemeines Gesetz sein könnte" lautete sein „kategorischer Imperativ", also ein Befehl, der keinen anderen Ursprung braucht als die reine Vernunft. Ein religiöses Gebot oder staatlicher Zwang, so der Philosoph der Aufklärung, seien gar nicht nötig. Denn weil jeder einmal in die Lage kommen kann, Hilfe zu brauchen, wird jeder vernünftige Mensch auch selbst hilfsbereit sein.
Neuere naturwissenschaftliche Forschungen geben ihm sogar Recht: Die natürlichen biologischen Impulse, haben etwa Biologen herausgefunden, seien so gesetzt, dass man spontan helfen möchte, wenn man die Not anderer sieht. Es wäre also nicht die Natur, die Menschen egoistisch macht, sondern eher die Kultur. Zum Beispiel, wenn sie in einer Gesellschaft leben, wo wirtschaftlicher Erfolg mehr Ansehen verspricht als Hilfsbereitschaft.
So einig sich Religionen und Philosophien darüber sind, dass Hilfsbereitschaft, gerade auch Fremden gegenüber, die Grundlage für jede zivilisierte Gesellschaft sind, so ist diese letzte offene Frage bis heute nicht entschieden: Brauchen wir Gott dafür, also einen Bezug auf das Transzendente, um die Menschen aus ihrem kleinmütigen Egoismus zu befreien? Nach christlicher Überzeugung zumindest ist das Dienen den Menschen gegenüber dasselbe wie der Dienst an Gott. Denn ein Jesus-Wort wurde zur Begründung der christlichen Hilfsbereitschaft schlechthin: „Was ihr getan habt einem von meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan." Diakonie, also Hilfe für andere Menschen, und Verkündigung, also Gottesdienst und Theologie, gehören seither für Christinnen und Christen untrennbar zusammen.
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