Michael Graf Münster: Ein neuer Rhythmus
Vom Dirigierpult kennen ihn die meisten, aber von der Kanzel? Und doch: Michael Graf Münster, der Ende März in der evangelischen Sankt Katharinenkirche an der Frankfurter Hauptwache sein Abschiedskonzert als Kantor gibt, hat auch ein Theologiestudium absolviert.
Der Tübinger Theologiestudent, 1957 in Köln geboren und in Stuttgart aufgewachsen, absolvierte ab 1976 bei Alexander Sumski ein privates Dirigierstudium. In München studierte er Kirchenmusik. Hier, wie zuvor in Stuttgart, besuchte er Proben und Kurse des Dirigenten Sergiu Celibidache. „Celibidache ist der Maßstab für Sorgfalt und Phantasie“ sagt Graf Münster.
Musikrepetent am Evangelischen Stift Tübingen war er im Anschluss an das Studium für vier Jahre, dann von 1992 an Pfarrer in Reutlingen – dazu Lehrbeauftragter an der Evangelisch-theologischen Fakultät in Tübingen. Parallel leitete er ein semi-professionelles Orchester und Vokalensemble, und gründete den Reutlinger Gospelchor. 1997 gewann die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) den Vielseitigen als Landeskirchenmusikdirektor, von 1998 an wirkte Graf Münster als Kantor an Sankt Katharinen. Von 2010 an konzentrierte er sich auf die Arbeit an dem prominenten Standort im Herzen Frankfurts.
Zusammen mit dem Organisten Martin Lücker profilierte Michael Graf Münster hier ein musikalisches Programm, dessen Radius weit über die kirchenmusikalisch interessierten Kreise hinausreicht. Seine Konzerte wurden oftmals von einem Publikum frequentiert, das in Opernhäusern und großen Sälen zu finden ist. Prominente Mitwirkende, wie der Bariton Johannes Martin Kränzle, und Graf Münsters Charisma zogen sie an. „Leidenschaft für die Musik, für das Hintergründige und Philosophische in der Musik, und seine Hingabe zu den Menschen, mit denen er musiziert, machen ihn einzigartig“, sagt Kränzle. „Für mich waren und sind die Proben und Konzerte in Sankt Katharinen von zentraler Bedeutung in meinem Konzertleben“, so der Sänger, der auf Bühnen wie der Metropolitan Opera New York, der Mailänder Scala oder in Bayreuth reüssierte.
Mit Verve dirigierte Graf Münster die Werke unterschiedlichster Epochen wie Claudio Monteverdis Marienvesper, die Auferstehungshistorie von Heinrich Schütz, Franz Liszts Graner Messe. Die letzte Aufführung von Bachs Matthäuspassion ist unvergesslich. Und jeden Advent wieder zu erleben in Sankt Katharinen: Teile aus Bachs Weihnachtsoratorium, kombiniert mit anderen Werken Bachs.
Zu seinen großen Verdiensten zählt die Gründung der BachVespern Frankfurt-Wiesbaden in Verbund mit Martin Lutz, Kirchenmusiker und Kulturpreisträger der Landeshauptstadt. Hinter dem Begriff „BachVespern“ verbirgt sich die Aufführung des gesamten Kantatenwerks von Johann Sebastian Bach. „Bachs Kantaten waren seit 2004 mein Lebensrhythmus“ sagt Graf Münster. Am 4. März 2023, 17.30 Uhr, steht die 179. BachVesper an: „Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit“ (Kantate 106, „Actus tragicus“). Der Kirchenpräsident der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, Volker Jung, wird bei der BachVesper, die wie immer Gesprächskonzert und Gottesdienst verknüpft, predigen. 2024 soll der Zyklus abgeschlossen sein.
In seinen beiden letzten Konzerten führt Graf Münster mit seinen drei Ensembles die beiden großen Messkompositionen der Musikgeschichte auf: Bachs h-moll-Messe (BWV 232) und Mozarts c-moll-Messe (KV 427). Bachs Spätwerk h-moll-Messe war der UNESCO 2015 einen Sonderstatus Wert. Am Sonntag, 12. Februar, 18 Uhr, singt sie das 2011 gegründete Solo-Vokalensemble Concerto Vocale – zehn Sänger:innen, darunter prominente Solo-Stimmen wie Mechthild Bach, Melinda Paulsen und Daniel Sans, bieten sowohl die Solosätze wie die Chorsätze. „Größte Kammermusik in völliger Transparenz“ schwärmt Graf Münster.
Im Finale am 26. März dirigiert der Sankt Katharinen-Kantor Mozarts große g-moll-Sinfonie (KV 550) und c-moll-Messe (KV 427). „Die Sinfonie gibt uns das Tragische, das Passionsnahe Mozarts. Die Messe nimmt das in ein jubelndes Gottvertrauen hinein“. Die Sinfonie spielt das Bach-Collegium Frankfurt und es singt die Kantorei St. Katharinen.
Der Scheidende ist nicht nur ein herausragender Dirigent, sondern auch ein Motivator in den regelmäßigen Proben. „Graf Münsters Begeisterung als Leiter der Kantorei ist ansteckend, sein Anspruch ist fordernd. Sein unermüdlicher Einsatz, Musik als Ermöglichung religiöser Erfahrung erlebbar zu machen, ist bewundernswert“, so der Wirtschaftsjournalist Rainer Hank, der neben Literatur und Philosophie auch katholische Theologie studierte und zu den Kantorei-Mitgliedern von Sankt Katharinen zählt. Oliver Schwenn, Vorstand der Kantorei, wirft in der neuesten Ausgabe des Gemeindebriefs Schlaglichter auf das Wirken des Katharinen-Kantors: „Schwingend und tänzerisch bewegt, immer fokussiert, stundenlang bis zur totalen Entäußerung“ sei sein Einsatz.
Gewiss wird weiterhin von Michael Graf Münster zu hören sein. Aber es drückt ihn kein Jahreskalender mehr. Zeit bleibt für Ausflüge ins geliebte Oberschwaben oder aber für eine Studie am in Frankfurt ansässigen Max-Planck-Institut für Empirische Ästhetik. Seit 2015 ist Michael Graf Münster dort Forschungsgast. Sein Thema: „Rhythmus als Verlaufsgestalt“.