Frau Kirch ohne Kirche: Anfang ist immer
Es hätte auch anders kommen können, mein runder Geburtstag – nein, nur die Feier dazu – wird verdrängt von dem, was uns alle in Atem hält: Corona. Vielleicht schenkt mir das Schicksal eine leichte Version des mörderischen Virus mit einer anschließend guten Immunität. Ich vermute, dass ich an diesem Infekt, so er mich erreicht, nicht sterben werde. Ich gehe davon aus, dass meine Kinder ihn gut überstehen werden. Ich habe Angst um ältere Menschen, meine Eltern, Freunde, Arbeitskollegen. Wirklich schlimm finde ich die Vorstellung, dass Kranke oder Sterbende niemanden haben, der ihnen die Hand halten kann wegen der Infektionsgefahr.
Manchmal beunruhigen mich meine Mitmenschen. Leere Supermarktregale können verstörend wirken, für mich als einsam-versorgende Mutter sind sie es zuweilen. Ich frage mich dann, ob im Falle eines Falles wirklich ein Nachbar da wäre, der für uns einkaufen gehen würde. Wenn mich Angst und Zweifel überfallen, rufe ich eine Freundin an. Denn Ängste haben eine Tendenz, zu wuchern und die Gedanken zu zersägen oder sich rücksichtslos so in den Tag zu schrauben, dass vom Frühling kaum etwas übrigbleibt. Allein die Stimme eines lieben Menschen zu hören, verändert das seelische Klima und das Wohlbefinden immens. Stimme ist nah, vertraut, inniglich – so fern der andere gerade auch sein mag. Das belebt und hilft über Momente des Verzagens hinweg.
Kein fester Boden also, vieles gerät ins Schwimmen – das kann beängstigend sein, ist jedoch nicht nur unangenehm, denn unter anderem schwimme ich in: Zeit. Ich gönne mir am Vormittag eine Pause im Liegestuhl am Hoffenster – nur dann und dort gibt es direkte Sonne in meiner Wohnung – und am Abend, wenn das Home Office geschlossen ist, sitze ich da und schaue in die Krone der Esche, die noch keine Blätter hat, aber ganz feine Zweige und Ästchen, welche den Himmel wie einen Flickenteppich wirken lassen und schon jetzt von Laubdächern erzählen. Dann sinkt die Dämmerung herab, das ferne Blau wird immer satter, und in mir steigt die Erinnerung hoch an Kinderzeiten, in denen nichts zu tun war – an dieses seltsame Gemisch aus endloser Langeweile und unverwüstlicher Neugier, das die Gegenwart wie schwebend träumerisch wachhielt. So bin ich in der blauen Stunde mit nichts beschäftigt als mit der eigenen Wahrnehmung: schauen, aufnehmen, verschwimmen lassen, gucken, glotzen, dösen, träumen. Ich tauche mehr und mehr ein in die unermessliche Weite hinter meinem Patchworkfirmament – und für eine lange Weile brauche ich nichts anderes als diese kleine Andacht. Denn es wird Nacht und morgen ist ein neuer Tag.
Wie auch immer es für uns kommen wird. Es gibt auf dieser Welt viele Katastrophen. Viel zu viele Menschen sterben minütlich an den Folgen von Krieg, Hunger, Gewalt. Viele von ihnen Kinder. Viele Menschen brauchen dringend Hilfe, um ihren nächsten Geburtstag erleben zu können, und viele Menschen haben kaum eine Chance, jemals froh zu werden. Wir sind in einer vergleichsweise komfortablen Situation. Deshalb spende ich nach wie vor, was ich entbehren kann, an Hilfsorganisationen wie Ärzte ohne Grenzen und Unicef und jetzt auch an die Künstlerinnen und Künstler, deren Vorstellungen abgesagt werden mussten.
Wenn Sie das auch können, dann machen Sie das doch einfach: Geben Sie etwas ab von Ihrer Sicherheit an jene, die mit kaum etwas rechnen können. Und dann freuen Sie sich über den Blütensegen im Vorgarten. Ob Sie nun gerade Geburtstag haben oder nicht: Anfang ist immer.
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