ForuM-Studie: „Strategisch planende Täter“
Es wird um Worte gerungen im voll besetzten großen Vortragssaal der Evangelischen Akademie am Frankfurter Römerberg. Volker Jung, der Kirchenpräsident der Evangelischen Kirche Hessen und Nassau (EKHN), gesteht ein, dass man am Beginn eines längeren Lernprozesses stehe im Umgang mit den tausendfach dokumentierten Missbrauchsfällen in evangelischen Gemeinden und Institutionen in ganz Deutschland.
Am 25. Januar ist die viel beachtete ForuM-Studie erschienen, die in Kirchenkreisen und darüber hinaus wie ein Erdbeben gewirkt hat. Sie wurde 2020 von der Evangelischen Kirche Deutschland (EKD) in Auftrag gegeben und mit 3,6 Millionen Euro finanziert. Der zuständige unabhängige Forschungsverbund hatte das Ziel, Strukturen von sexualisierter Gewalt und Machtmissbrauch innerhalb der evangelischen Kirche und der Diakonie zu analysieren. Damit sollte eine empirische Basis für die weitere Aufarbeitung geleistet werden. Im Durchschnitt waren Betroffene zum Zeitpunkt des Missbrauchs 11,5 Jahre alt, die Täter zu 99,6 Prozent männlich, größtenteils verheiratet und im Schnitt 37 Jahre alt.
Volker Jung beschreibt an diesem Abend die Arbeit der Fachstelle gegen Sexualisierte Gewalt in der EKHN, wo Kompetenzen unterschiedlicher Professionen (Jura, Theologie, Pädagogik, Geschichte sowie Sozialwissenschaften) und Positionen in der Kirchenverwaltung zu einem Team zusammengefasst seien. Die direkte Kommunikation mit Betroffenen sei trotz aller Bemühungen eine Herausforderung, bei der auch Missverständnisse entstünden. „Wir helfen auf verschiedenen Ebenen, und bieten auch Entschädigungszahlungen an“, erklärt Jung den üblichen Prozess. Eine Betroffene habe allerdings ein Schreiben, in dem stand, sie solle bitte ihre Kontonummer mitteilen, als kalt empfunden.
Matthias Schwarz, der auch auf dem Podium sitzt, nickt. Schwarz ist Beauftragter für die Unterstützung Betroffener bei der Fachstelle gegen sexualisierte Gewalt der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau und seit Juli 2022 Mitglied der Betroffeneninitiative im Beteiligungsforum der EKD. Der Pfarrer im Ruhestand erlebte während seiner Konfirmandenzeit sexualisierte Gewalt. Er forderte klare und einheitliche Standards für Aufklärung, Aufarbeitung und den Umgang mit Betroffenen in der Kirche. „Der Täter war mein Gemeindepfarrer, sehr anerkannt und geschätzt und für mich als Kind jemand, zu dem ich aufgeschaut habe“, sagt er.
Bei der Diskussionsrunde erneuert Harald Dreßing vom Zentralinstitut für seelische Gesundheit in Mannheim, einer der Autoren der ForuM-Studie, am Mittwochabend seine Kritik. Der Psychiater sprach von einer „hohen Heterogenität“ des untersuchten Aktenmaterials, das heißt, die Fälle sind in ihren Details sehr unterschiedlich und decken eine große Bandbreite ab. Als spezifische evangelische Bedingungen, die Missbrauch begünstigen, nannte Dreßing „Verantwortungsdiffusion“, „Harmoniezwang“ und das „Selbstbild von der besseren Kirche“. Nun sei aber deutlich geworden, dass es in der katholischen und der evangelischen Kirche gleichermaßen zu „Missbrauch pastoraler Macht“ komme.
Die ForuM-Studie habe gezeigt, dass es in der evangelischen Kirche nicht um Einzelfälle gehe, sondern um die Verbrechen von „strategisch planenden Tätern“, die die vorhandenen Strukturen ausnutzten, sagt auch die Moderatorin der Diskussionsrunde und Chefredakteurin des evangelischen Magazins Chrismon, Claudia Keller.
Mit auf dem Podium ist auch Dewi Maria Suharjanto, Projektleiterin der Missbrauchsstudie im katholischen Bistum Limburg. Sie spiegelte den Protestanten in der Runde deren Aufklärungsbemühungen mit Berichten aus dem katholischen Bereich. „Ganz wichtig ist, dass wir Aufklärung und Aufarbeitung nicht durcheinanderbringen dürfen“, betonte Suharjanto: „Erst wenn die Aufklärung beendet ist, kann mit der Aufarbeitung begonnen werden.“
Anlaufstelle für Betroffene von sexualisierter Gewalt in der EKHN
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