Das Kreuz als Mahnung
Zu den öffentlichen Gebäuden in Frankfurts Altstadt, die in der Bombennacht des 22. März 1944 getroffen wurden, gehörte auch die Paulskirche: Ausgebrannt stand sie inmitten der Trümmerkrater, wie an einem seidenen Faden hing das Kreuz des Glockenturms herab. Andrea Braunberger-Myers, Pfarrerin der Evangelischen Sankt Paulsgemeinde, erinnerte 75 Jahre danach am vergangenen Freitag in der Alten Nikolaikirche auf dem Römerberg, in der heute die Paulsgemeinde ihre Gottesdienste abhält, daran, dass die Künstlerin Lina von Schauroth zum einen das gestürzte und doch sichtbare Kreuz zeichnerisch festgehalten hat, zum anderen auch nach dem Krieg die Fenster der wieder aufgebauten evangelischen Alten Nikolaikirche gestaltete.
Nahezu exakt zu der Zeit, als vor 75 Jahren der Bombenhagel das Zentrum Frankfurts traf, begann am Freitag mit einem Klagegebet in der Alten Nikolaikirche ein Gedenkgang, zu dem die Gemeinde, der evangelische Stadtdekan Achim Knecht und der katholische Stadtdekan Johannes zu Eltz in Kooperation mit Bürgermeister Uwe Becker aufgerufen hatten. Mehr als 100 Menschen beteiligten sich und zogen von dem evangelischen Gotteshaus durch die Neue Altstadt hin zum Abschluss im katholischen Sankt Bartholomäusdom.
Inmitten des neu erbauten Quartiers, das auf dem Schutt des zerstörten errichtet wurde, machte die Gruppe unweit des Hühnermarkts Halt, um der Menschen zu gedenken, die ihr Leben verloren und auch der Schäden, die andere erlitten. Drei Ensembles der Frankfurter Bläserschule begleiteten unter der Leitung von Sunhild Pfeiffer und Simon Schumann das Gedenken an den Stationen. Ludwig van Beethoven spielten sie zum Auftakt auf dem Römerberg, Felix Mendelssohn-Bartholdys „Verleih uns Frieden gnädiglich“ erklang in der Neuen Altstadt, im Dom schlossen die jungen Musizierenden mit „Peace I leave with you“, komponiert von John Barnard, Jahrgang 1948.
Sowohl Knecht als auch Becker erinnerten an die Ursachen des Krieges, aber auch an die Verantwortung, die heute für den Erhalt von Frieden bestehe. Die Saat der Gewalt sei schon viel früher durch die Abkehr von Menschlichkeit ausgeworfen worden, schon 1933 mit der der nationalsozialistischen Machtübernahme, sagte der evangelische Stadtdekan. Er erwähnte, dass vor den Türen der Nikolaikirche in der NS-Zeit Bücher als Ausdruck des freien Geistes verbrannt wurden. Aufgrund ihres Glaubens und ihrer politischen Überzeugung seien die Menschen verfolgt, aus ihrer Heimat vertrieben, eingekerkert und in Lager gesteckt worden. Und als besonderes Merkmal des Grauens nannte Knecht, „das Lebensrecht abgesprochen wurde, aufgrund eines rassistischen Menschenbildes“.
Bürgermeister und Kirchendezernent Uwe Becker äußerte: „Der 22. März steht nicht singulär, sondern im Kontext von unfassbarem Leid, das in der Zeit des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkrieges über viele Millionen Menschen in Frankfurt, Deutschland, Europa und der Welt gebracht worden ist.“ Eingeschlossen seien in dem Gedenken auch all jene Menschen, die in den Jahren zuvor und den Monaten danach unermessliches Leid und Tod ertragen mussten „aus rassistisch motivierten, politischen und weltanschaulichen Gründen, weil ihr Leben als unwert betrachtet wurde oder weil sie den Mut hatten, sich gegen das Terror-System zu stellen“. Mit diesem Gang solle ein Zeichen gegen Hass und Verblendung gesetzt werden.
Das Kreuz mahne auch heute, die Menschen – und zwar alle - in den Mittelpunkt zu stellen, in Gesellschaft, Politik und Wirtschaft, so der evangelische Stadtdekan. Das gelte: „In unserem Land - und an den Grenzen Europas, auf dem Weg der Flüchtlinge über das Mittelmeer“. Der katholische und der evangelische Stadtdekan sprachen auf dem Weg zwischen Alter Nikolaikirche und Dom ein gemeinsames Dankgebet. Sie dankten darin für den fast 74 Jahre hier währenden Frieden, dafür dass die Neue Altstadt belege, dass ein Neuanfang möglich ist. Und sagten zu Gott gewandt: „Hier in der neuen Altstadt sagen wir Dir Dank dafür, dass wir in dieser bunten und manchmal lauten Stadt in unterschiedlicher Vielfalt zusammenleben. Dass Frieden gelingt trotz allem Unfrieden.“