Antisemitismus: Einblicke in Fakten und Erleben
„Schon wieder – Müssen jüdische Menschen in Frankfurt Angst haben?" – über dieses Thema haben gestern Abend, auf Einladung der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit, der Jüdischen Gemeinde Frankfurt und der Evangelischen Kirche in Frankfurt und Offenbach, Christoph Döring vom Staatsschutz Kriminalpolizei Frankfurt, Holger Kamlah, Stadtdekan, Evangelische Kirche Frankfurt und Offenbach, Daniel Navon, Vorstand des Jüdischen Studentenverbandes Hessen und Julian-Chaim Soussan, Rabbiner, Jüdische Gemeinde Frankfurt, im Dominikanerkloster, dem Sitz der Evangelischen Kirche in Frankfurt und Offenbach, diskutiert.
„Der 7. Oktober war eine Zäsur“ - auch in Frankfurt, der Stadt der Diversität, in der „die Wiege der Demokratie“ steht, läutete Michaela Fuhrmann, Moderatorin der Runde und Leiterin für Politische Beziehungen der Jüdischen Gemeinde Frankfurt, das Gespräch ein, „nie wieder ist jetzt geworden“, sagte sie.
Susanne Urban, Mitarbeiterin der Recherche- und Informationsstelle Hessen und neue Antisemitismusbeauftragte der Universität Marburg, lieferte eingangs Fakten: 528 antisemitische Vorfälle seien 2023 in dem Bundesland registriert worden, 338 davon zwischen dem 7. Oktober und dem 31. Dezember 2023. „Die Zahlen 2024 werden noch höher werden“, prognostizierte Urban, im Januar 2025 werden sie ausgewertet. Klar sei jetzt schon, dass Frankfurt im Hessenvergleich wieder mit sehr hohen Fallzahlen auffallen werde.
„Das Thema beschäftigt uns schon länger“, leitete Döring sein erstes Statement ein. Der Staatsschutz erlebe antisemitische Vorfälle vor allem aus der linken Szene und der islamistischen. Bei zwei Dritteln der Vorfälle handele es sich um Ereignisse im Zusammenhang mit Veranstaltungen. Er geht von rund 250 Straftaten, „die uns bekannt sind“, aus. Körperliche Übergriffe gebe es in Frankfurt im Vergleich zu Hamburg oder auch Berlin „relativ wenig“.
Auf dem Campus erlebe er eine drastische Radikalisierung, sagte der jüdische Studierendenverbandsvertreter Navon. Universitäten würden zu „Kampfgebieten“. Navon erinnerte daran, dass das Grüneburg-Areal, auf dem der Campus Westend seinen Sitz hat, einst der Familie Rothschild gehörte, und dass in dem Poelzig-Bau im Westend, in dem heute die Goethe-Universität ihren Sitz hat, die IG-Farben ansässig war, die das Gas für Auschwitz produzierte.
In den Schulen werde viel zu wenig über das Judentum gelernt, beklagte Daniel Navon, über die Jahrhunderte währenden Traditionen der sogenannten SchuM-Städte Speyer, Worms und Mainz beispielsweise, die zum Unesco Welterbe zählen. Er halte es für eine rationale Reaktion, vorsichtig zu sein, sagte der Studierendenvertreter, aber „wir werden uns nicht verstecken“.
Rabbiner Soussan sagte, er werde sein Leben nicht in Angst verbringen, „dafür ist mir mein Leben zu schade“. Zu beobachten sei jedoch manches Déja-vu, dass „Juden Feindbild sind“. Er selber habe erlebt, dass seit dem 7. Oktober viele nichtjüdische Freunde nicht mehr Freunde sind.
Mit Blick auf die politische Ebene beklagte Julian-Chaim Soussan, dass Bundestagsvizepräsidentin Aydan Özoğuz, immer noch im Amt sei, auch nach ihren Instagram-Aktivtäten. Sie hatte einen Beitrag geteilt, der Zionismus mit Tod und Vernichtung in Verbindung brachte.
Soussan äußerte, „wir dürfen das Feld nicht der AfD überlassen“. Er sprach in der Diskussion davon, dass es gegenwärtig nicht allein um Antisemitismus gehe, sondern: „Wir reden von der Zukunft der Demokratie hier in der Gesellschaft“. Die Gesellschaft müsse endlich aufstehen. Ausdrücklich wehrte Soussan sich dagegen, dass Dinge nicht beim Namen genannt, sondern verdreht werden, beispielsweise wenn nach einem Angriff auf eine Synagoge von „Israelkritik“ die Rede ist.
Social Media, insbesondere TikTok, sind Felder, Blasen, auf denen und in denen sich Antisemitismus ausbreitet, „wir müssen in TikTok Erinnerungskultur hineintragen“, sagte Stadtdekan Kamlah. Erschreckend findet er persönliches Erleben, etwa wenn Schulleitungen offen antisemitisches Verhalten ignorierten, wie er von einer jüdischen Freundin erfahren habe, so Kamlah.
Auf die Frage, ob „nie wieder“ auch heute noch gelte, hätte er vor 20 Jahren „ja“ gesagt, inzwischen sei er zweifelnder, meinte Holger Kamlah. Und auf Fuhrmanns Frage, ob die Gemeinden Bastionen gegen Antisemitismus seien, meinte er, sie spiegelten wohl die Gesellschaft. Offene Einrichtungen in evangelischer Trägerschaft, Jugendhäuser oder in Schulen, erreichten jedoch einen weiten Kreis und trügen zu Aufklärung und Engagement gegen Antisemitismus bei.
Ob Staatschutzvertreter, Vorstand des Studierendenverbands, Rabbiner oder Stadtdekan – sie waren sich einig: Deutliches Eintreten für Rechtsstaat und Demokratie, das Setzen auf Aufklärung und Bildung, sind die wirksamsten Mittel gegen grassierenden Antisemitismus.
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