Das Glück zweier Brüder aus Afghanistan
Die Nachricht war ein Schock. Im Anschluss an seine Anhörung durch ein Gericht in Gießen erfuhr der aus Afghanistan stammende Sharam, dass er ausreisepflichtig sei und damit konkret von Abschiebung bedroht. Gemeinsam mit seinem minderjährigen Bruder war er über den Iran, die Türkei, Griechenland, Bosnien, Kroatien, Slowenien, Italien und Frankreich nach Deutschland geflohen. Die Taliban wollten den Goldschmiedemeister und Design-Studenten als Kämpfer rekrutieren. Seinen Bruder Allawie, neun Jahre jünger, sahen sie für eine Ausbildung zum Selbstmordattentäter vor. Angesichts dessen entschied die Familie, die beiden auf die Flucht zu schicken.
Im November kamen die Brüder in Hessen an. Der minderjährige Allawie wohnte eine Zeit bei einem Onkel in Frankfurt, den er zuvor nie gesehen hatte, und der die Verantwortung für ihn schließlich nicht übernahm, so dass er in eine Wohngruppe nach Frankfurt-Bonames wechselte. Sharam schickten die Behörden in eine Sammelunterkunft nach Gießen. Diese Trennung war schmerzlich. Erst recht nachdem im Dezember 2020 die Nachricht eintraf, dass der jüngste, noch in Afghanistan verbliebene Bruder, getötet worden war. Allawie wusste nicht mehr weiter, seine Schulleistungen fielen ab. Und dann im März auch noch die Botschaft: Der große Bruder Sharam darf nicht in Deutschland bleiben – Widerspruch ließ das in Gießen getroffene Urteil nicht zu. Der Afghane gehört zu den sogenannten Dublin-Fällen. Für ihn stand an, in das europäische Land zurückgeschickt zu werden, in dem er erstmals erkennungsdienstlich erfasst wurde: Slowenien.
An dieser Stelle kam Magnus Göpel ins Spiel. Der 55-jährige hatte sich jüngst vom Kinderschutzbund zum ehrenamtlichen Vormund für Geflüchtete qualifizieren lassen. Eigentlich ließ ihn sein Beruf dafür keine Zeit: „Aber irgendwann muss man so was machen, kann nicht immer sagen: Später mal!‘“, findet er und schaut zu Allawie, der neben ihm sitzt: Ein gelbes T-Shirt mit Graffiti-Smile trägt der Jugendliche, im Gesicht ein angedeutetes Lächeln und einiges an Vertrauen.
Allawie war Göpels erster Schützling. Der Vormund ist froh, dass auch ein Jurist mit eingestiegen ist in die Betreuung des Teenagers. Der Rechtsanwalt hat beraten, als in Gießen das apodiktische Urteil hinsichtlich des Verbleibs von Sharam erging. Der Vormund wandte sich danach an Prodekanin Schoen, die früher in der Flüchtlingshilfe der Diakonie Hessen tätig war und fragte an, ob die evangelische Kirche weiterhelfen könne: „Ein Auseinanderreißen der Geschwister wollte ich auf jeden Fall verhindern“, sagt der Betreuer. Sharam ist nicht nur der große Bruder von Allawie, sondern Vaterersatz und die einzige vertraute Bezugsperson für ihn hier in Deutschland.
Schoen vermittelte dann den Kontakt zum Frankfurter Diakonissenhaus. Die Anfrage war für das Diakonissenhaus eine große Herausforderung, der dortige Pfarrer Alexander Liermann konnte zunächst kein grünes Licht geben: Die kleine und zum größten Teil hochbetagte Gruppe der Schwestern sah sich dieser Aufgabe nicht gewachsen. Außerdem befindet sich das Haus inmitten einer Neuausrichtung, um es zukunftsfester zu machen. „Wie sollte da noch ein Kirchenasyl gestemmt werden?“ - seien die Bedenken im Diakonissenhaus gewesen, berichtet Liermann.
Gemeinsam mit Oberin Hedi Steinmetz entschied er sich schließlich doch, Sharam ein vorübergehendes Zuhause zu schaffen, und die Diakonissen und das Hauspersonal zogen mit. Krieg und Flucht sind Themen, die auch einige der alt gewordenen Diakonissen aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs noch kennen. Von „Stolz“ reden sie nicht gerne, eher nutzen sie eine Formulierung wie „Da dient unser Diakonissenhaus doch noch einmal der Rettung eines anderen Menschen“, so Liermann.
Der Pfarrer kennt die Verhältnisse in Afghanistan – zumindest grundsätzlich – aus eigener Anschauung. Als Seelsorger begleitete er für viereinhalb Monate Bundeswehrsoldaten und –soldatinnen in Masar-e Scharif. Raus aus dem Lager sei er persönlich in der Zeit nur selten gekommen. „Das war damals längst zu gefährlich“, berichtet der Theologe. Umso froher ist er, in seiner jetzigen Rolle einem Afghanen helfen zu können,
In Frankfurt gebe es regelmäßig Fälle von Kirchenasyl, alle davon aufgrund der Dublin Regel, berichtet Schoen. Bundesweit wurden Ende Juni nach Angaben der AG Kirchenasyl 316 solcher Aufnahmen gezählt, 293 unterlagen der Dublin-Regelung.
Im Zuge des Kirchenasyls konnte ein sogenanntes „Dossier“ für das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) eingereicht werden. Hierbei war Maria Bethke, eine Juristin der Diakonie Hessen, unterstützend tätig. Der Antrag bezog sich auf den Erhalt der familiären Gemeinschaft der beiden Brüder durch das sogenannte Selbsteintrittsrecht der Bundesrepublik in Asylverfahren. Es hat funktioniert. Aus „humanitären Gründen“ wurde auf „Freiwilligen Selbsteintritt“ entschieden, so dass das weitere Verfahren hier in Deutschland laufen kann.
Sharam spricht bislang wenig Deutsch, der jüngere Bruder, der eine hiesige Schule besucht, übersetzt einen Großteil des Gesprächs, aber die „45“, die kennt er. 45 Tage hat es gedauert, bis der Bescheid vom BAMF kam mit dem die Abschiebung nach Slowenien erst einmal vom Tisch ist.
Viele haben an einem Strang gezogen, um das zu ermöglichen. Rasch etablierte sich im und um das Diakonissenhaus ein zwölfköpfiges Team, das beim Spracherwerb, bei Ämtergängen oder der Beschäftigung Sharams hilft. Die Mitarbeitenden und Bewohner:innen im Frankfurter Diakonissenhaus zählen dazu, die Diakonie Hessen, die Beratung für Geflüchtete im Haus am Weißen Stein und noch einige andere Ehrenamtliche. „Es gehört Demut zu solch einem Verfahren“, sagt Schoen, „es gelingt nur, wenn man gemeinsam mit ganz unterschiedlichen Kompetenzen an einem Strang zieht“. Dabei unterstützt die seit 2014/2015 bestehende AG Kirchenasyl mit Barbara Lueken als Koordinatorin im Evangelischen Stadtdekanat.
Der große Traum der Brüder nach dem jüngsten Bescheid ist eine gemeinsame Wohnung. Bis dahin ist es aber noch hin, das Verfahren wird erst einmal seinen Gang nehmen. Sharam kann bis auf Weiteres im Diakonissenhaus ein Zimmer beziehen – als Mieter. In der Zeit des Kirchenasyls hat der 23-Jährige im Diakonissenhaus in der Küche ausgeholfen. Zwei der Hauswirtschafterinnen sind aus dem ehemaligen Jugoslawien vor Jahren geflohen, „die wissen, was es heißt, bei Null anzufangen“, sagt Liermann.