Heidi Fletterer bringt Zirkuserlebnisse zu Frankfurter Kindern
„Wir hatten fünfzig Tiere, darunter drei Kragenbären, ein Kamel, ein Dromedar und zwei Lamas“ erzählt Heidi Fletterer, „außerdem Ziegen, Pferde, Esel. Die haben wir mit vier Personen versorgt.“ Man spürt ihre Begeisterung, wenn sie von der Zeit erzählt, als sie mit Eltern und Schwester im Familienzirkus „Oriental“ unterwegs war. „Wir haben alle Nummern selbst gemacht, Clowns, Tiere, Akrobatik, Zauberei.“
Heidi Fletterer stammt aus einer echten Zirkusfamilie, ihr Urgroßvater hätte den ersten „Saarländischen Staatszirkus“ gegründet und sei schon Zirkusdirektor gewesen, erzählt sie. Ihre Eltern waren zunächst beim Zirkus Althoff angestellt, später machten sie sich als Familienbetrieb selbstständig. Mit ihrem „Zirkus Oriental“ reisten sie durchs Saarland. Als Heidi 21 Jahre alt war, starb ihr Vater an Krebs. „Das war hart, denn Zirkus ist eine Männerwelt. Trotzdem haben meine Mutter, meine Schwester und ich weiter gemacht.“
Aber heutzutage sei es kaum noch möglich, als kleiner Zirkusbetrieb zu überleben. „Es gibt viele Vorurteile gegen Leute wie uns“, erzählt Fletterer. Es sei schwer, bezahlbare Standplätze zu finden, viele Kommunen seien skeptisch, die Arbeit ist hart, und die Eintrittsgelder decken kaum die Kosten. Und dann gibt es noch bürokratische Hürden.
Zum Beispiel das mit der Schule. Kinder aus Schaustellerfamilien müssen die Schule an dem Ort besuchen, wo das Unternehmen gerade gastiert. Das heißt, sie sind oft jede Woche woanders. „Das habe ich als Kind selbst erlebt, aber so findet man keine Freunde, und das Lernen ist auch schwierig“, sagt Fletterer. Deshalb wollte sie, dass ihre eigenen Kinder nur eine Schule besuchen. „Wir haben sie jeden Morgen hingefahren und nachmittags wieder abgeholt, manchmal über hundert Kilometer weit. Aber das war mir egal.“ Die größte Hürde sei gewesen, die Genehmigung der Behörden einzuholen und auch eine Schule zu finden, die bereit ist, „Zirkuskinder“ dauerhaft aufzunehmen. „Die möchten sie in der Regel schnell wieder loswerden.“
Dass der Frauenbetrieb „Zirkus Oriental“ trotz aller Schwierigkeiten so lange überleben konnte, liegt auch daran, dass die Betreiberinnen ein neues Geschäftsmodell fanden: Zirkusprojekte an Schulen. Dabei schlugen sie ihr Zelt jeweils auf einem Schulhof auf und arbeiteten gemeinsam mit den Kindern ein Programm aus, das dann am Ende der Woche aufgeführt wurde.
Doch vorigen Herbst war Schluss, wurde das große blaue Zirkuszelt zum letzten Mal abgebaut und dann verkauft. „Unser Ansprechpartner für die Schulen ist in Rente gegangen, ohne ihn konnten wir die Projekte nicht weiterführen“, erzählt Fletterer.
Jetzt lebt die inzwischen 43-Jährige das ganze Jahr über in Frankfurt, auf dem Wohnwagenstandplatz in Eschersheim, wo sie schon seit ihrer Heirat mit ihrem dort ansässigen Ehemann immer die Winter verbracht hat. „Im Sommer hatten wir dann eine Fernbeziehung“, erzählt sie, „unter der Woche hat mein Mann in Frankfurt gearbeitet, am Wochenende kam er ins Saarland und hat uns beim Umzug von einem Standort zum nächsten geholfen.“
Auch für die drei schulpflichtigen Söhne sei es gut, dass sie jetzt das ganze Jahr über in derselben Schule sind und nicht mehr zwischen Saarland und Frankfurt pendeln, sagt Heidi Fletter. Und sie selbst genießt es durchaus auch, nicht mehr jeden Tag 12 bis 14 Stunden arbeiten zu müssen. Zumal die Familie vor acht Monaten noch einmal Nachwuchs bekommen hat, ein kleines Mädchen diesmal.
Doch ganz möchte Fletterer die familiäre Zirkustradition nicht aussterben lassen. Dass das schade wäre, fand auch Sonja Keil, die für die Diakonie Frankfurt Gemeinwesenarbeit auf dem Wohnwagenplatz macht. Und so entwickelten sie zusammen das Projekt „Kofferzirkus“: Dabei kommt Heidi Fletter mit zwei großen Koffern voller Zirkusutensilien in eine Frankfurter Kindereinrichtung und erarbeitet dort mit den Kindern ein richtiges Zirkusprogramm. Das dann natürlich auch aufgeführt wird.Erprobt hat sie das Konzept diesen Sommer in der Kindertagesstätte Rosengarten in Nied – und es sei ein voller Erfolg gewesen. „Besonders gut eignet sich das auch für Einrichtungen mit einem hohen Anteil Kindern mit Migrationshintergrund“, sagt Sonja Keil, „sie können hier ihre Fähigkeiten einbringen und haben Erfolgserlebnisse“. Ob Clownerie, Akrobatik oder Zauberei – jedes Kind findet eine Möglichkeit, sich einzubringen.