„Nicht zulassen, dass Menschen extrem vereinsamen"
Frau Schoen, im kommenden Winter werden wir mit dem Corona-Virus leben müssen. Sie sind im Evangelischen Stadtdekanat Frankfurt und Offenbach unter anderem für die Altenseelsorge zuständig. Wie erleben Sie das, wenn von alten Menschen neuerdings vorwiegend als „Risikogruppe“ die Rede ist?
Natürlich sind alte Menschen vom Medizinischen her mit einem größeren Risiko behaftet, wenn sie an Covid erkranken. Aber das Alter ist nicht per se eine Risikogruppe, sondern eine Lebensphase. Alte Menschen in der derzeitigen Krise vorrangig als Risikogruppe in den Blick zu nehmen, rückt die Fragen, um die es in der Seelsorge geht, in den Hintergrund.
Und welche sind das?
Der Mensch ist in der jüdisch-christlichen Tradition ein Gegenüber Gottes. Diese Beziehung gibt ihm Würde. Uns geht es in hohem Maße darum, die Würde alter Menschen zu schützen. Das heißt, ihnen solange wie möglich, ihre Selbstbestimmung zu erhalten. Hygieneregelungen von Altenheimen und ähnliche Vorkehrungen sind immer daran zu messen, ob sie die Würde der Menschen achten. Auch alte Menschen müssen zum Beispiel jederzeit das Recht haben, das Haus zu verlassen.
Aber Kontaktbeschränkungen sind in einer Pandemie doch sinnvoll, oder?
Ja, aber sie dürfen nicht zulasten von Beziehungen gehen. Als Menschen erfahren wir in und durch Beziehungen, wer wir sind und was wir sind. Gerade im Alter, wenn die eigene Identität vielleicht langsam verblasst, weil bestimmte Dinge, die zu mir gehört haben, nach und nach wegfallen, wird diese Möglichkeit der Selbstwahrnehmung durch Beziehungen umso wichtiger. Kontakt ist gerade im Alter für das Ich überlebensnotwendig.
Sollen wir also unsere alten Eltern und Großeltern weiter besuchen, trotz Infektionsrisiko?
Man muss immer fragen, was mit Blick auf die Wünsche und Bedürfnisse der einzelnen verhältnismäßig ist. Das kann man nicht pauschal entscheiden, sondern es muss je nach Situation immer wieder neu ausgelotet werden. Jedenfalls dürfen wir ihnen die Verantwortung für das eigene Wohlergehen nicht absprechen. Es gibt Alte, denen Telefon oder Videocalls ausreichen und die sich so auch sicherer fühlen, und andere, die den physischen Kontakt bevorzugen. Und der ist auch in Pandemiezeiten möglich, wenn wir das mit einem hygienischen Bewusstsein tun, also Abstand halten, uns nicht umarmen und so weiter. Letztlich müssen das immer die konkret Beteiligten selbst entscheiden. Aber klar ist, dass es Situationen gibt, in denen andere Aspekte höher stehen als die Frage, ob wir jemanden möglicherweise infizieren. Man kann durch zu viel Vorsicht auch anderen etwas schuldig bleiben.
Welche Herausforderungen sehen Sie im Winter auf die Gemeinden und die kirchliche Seniorenarbeit zukommen?
Es ist ein Problem, dass man jetzt nicht mehr so viel draußen machen kann. Den Sommer über wurden viele Dinge nach draußen verlegt. In der Dreikönigsgemeinde zum Beispiel gab es das wöchentliche Altencafé nicht mehr, aber wer wollte, konnte sich mittwochs nachmittags an einem bestimmten Ort draußen treffen und sich dort mit Abstand mit der Pfarrerin oder einem Pfarrer und anderen unterhalten. Solche Dinge werden im Winter nicht mehr so gut möglich sein. Um Menschen gut zu begleiten müssen wir immer wieder ausloten, welche Form von Kontakten noch zu verantworten sind. Die Selbstverantwortung der einzelnen und die Verantwortung der Gemeinden ist dabei genauso wichtig wie öffentliche Regelungen.
Welche Maßnahmen wünschen Sie sich für Alten- und Pflegeheime?
In bestimmten Lebenssituationen sind Besuche und Kontakte zentral und grundlegend für das seelische und körperliche Wohl der Menschen. Deshalb fordern wir ganz klar, dass es keine pauschalen Besuchsverbote und Kontaktsperren geben darf. Hochaltrige Menschen und gerade demenziell veränderte Menschen, werden teilnahmslos und grau, wenn sie nicht besucht werden. Wir dürfen nicht zulassen, dass sie aus Infektionsschutzgründen extrem vereinsamen. Auch Einsamkeit kann zum Tod führen. Irgendwann kommen sie dann ins Krankenhaus und sterben. Aber auch da ist an die Verantwortung der Angehörigen zu appellieren: Je mehr man sich selbst vor Infektionen schützt, desto mehr kann man auch mit älteren Menschen in Kontakt bleiben.
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