Afghanistan: Gerührtsein ist keine Lösung
Anja Harzke, Pfarrerin der Evangelischen Dornbuschgemeinde, ist stellvertretende Vorsitzende von MAqom – Kirche und Zuflucht e.V., sie berichtet: „Als freiwillig Engagierte in Kirchengemeinden erreichen uns seit Tagen, ja seit Wochen, Hilferufe von verzweifelten, aus Afghanistan stammenden Menschen, die hier Schutz gefunden haben, deren Familien aber noch in Afghanistan sind. Nun für schnelle unbürokratische Rettung zu sorgen, hat oberste Priorität.“
Bettina Janotta, Leiterin des Kirchlichen Sozialdienstes für Passagiere am Flughafen der Diakonie, berichtet, dass sich aktuell 600 bis 1000 Menschen im Transitbereich des Flughafens aufhielten, „am vergangenen Freitag ging es los“. Vor ein paar Wochen seien „normale" Flugzeuge mit Menschen aus Afghanistan gelandet, dann habe es eine Pause gegeben, wohl wegen der Schwierigkeiten mit den Visen. Auch wenn alle sich bemühten, Fraport, Deutsches Rotes Kreuz, Lufthansa, Bundespolizei und andere, es gelinge kaum „der Bedürfnisse der vielen Menschen Herr zu werden“. Der Sozialdienst kümmere sich vor allem um Einzelne. Heute beispielsweise begegnete Bettina Janotta einem Mann, „seine Frau und seine beiden Kinder sind noch in Kabul am Flughafen, er ist verzweifelt“. Die Sozialpädagogin erzählt auch von einer jungen Frau, ihr bodenlanges Kleid war am Saum zerrissen. Sie bat den Sozialdienst um eine Schere, „weil sie den Staub aus Afghanistan und die Fetzen unten am Kleid loswerden wollte“. Janotta ringt um Worte, gerührt zu sein, verbietet sie sich – das wäre unangemessen angesichts der vielen dramatischen Schicksale am Flughafen.
Mit Blick auf den Tag des Kirchenasyls, der am Montag, 30. August 2021, bundesweit erstmals begangen wird (weitere Informationen), äußert Pfarrerin Harzke: „Immer wieder haben Kirchengemeinden in Frankfurt und bundesweit Familien oder Einzelnen aus Afghanistan und anderswo Schutz in Kirchengebäuden gewährt, oft über Monate, weil Ihnen die Abschiebung in Leid und Verfolgung drohte.“ Zuletzt wurde dieser Schutz in Frankfurt im Diakonissenhaus eingeräumt (mehr dazu), auch in der Evangelischen Hoffnungsgemeinde, zwischen Westend und Bahnhofsviertel gelegen, fand eine Familie aus Afghanistan Anfang 2021 auf Zeit eine Unterkunft.
Kirchenasyl ist für Prodekan Holger Kamlah aktuell mit Blick auf die Menschen, die aus Afghanistan kommen, nicht das vorrangigste Thema. „Ich würde hoffen, dass die, die es jetzt überhaupt nach Deutschland schaffen, erstmal hier auch bleiben können.“ Doch die erschütternden Bilder vom Flughafen in Kabul, die treiben ihn um. „Mich beschäftigt die ganze Situation in Afghanistan sehr“. Holger Kamlah, hat vor fünf Jahren für einen damals 16 Jahre alten Geflüchteten aus Afghanistan eine Vormundschaft übernommen. Er hat sich dazu vom Kinderschutzbund schulen lassen, auch in die deutsche Gesetzgebung vertieft. Inzwischen ist sein Schützling über 18 und selbständig, beide haben aber noch engen Kontakt. „Der ist absolut verzweifelt“, berichtet Holger Kamlah, vor allem, weil er und seine Familie extrem unter den Taliban gelitten haben und er weiß, welchen Bedrohungen die Menschen in Afghanistan nun schutzlos ausgeliefert sind „Am bedrückendsten ist, dass man gerade so wenig tun kann, um den Menschen zu helfen“, sagt Kamlah, Aber gerade deshalb ist es für ihn wichtig, die Situation der Menschen in Afghanistan im Gebet vor Gott zu bringen.
Dieser Tage steht das Telefon nicht still bei Barbara Lueken, Verfahrensberaterin im Evangelischen Zentrum Am Weißen Stein. Leute, die verzweifelt versuchen, ihre Angehörigen aus Afghanistan rauszubekommen, tauchen aber auch direkt vor ihrer Tür auf, senden Mails. Wenn sie diese Nachrichten weiterschicke an die Krisenstelle des Außenministeriums, erhalte sie inzwischen eine standardisierte Rückmeldung in mehreren Sprachen, der Posteingang der E-Mailfächer sei aktuell nicht zu bewältigen, heißt es. Die Beraterin hofft dringlich, dass Menschen auch nach diesen Tagen Afghanistan werden verlassen können „und dass Deutschland dann großzügig ist bei den Aufnahmen“. Fälle wie der eines Mannes, der seit anderthalb Jahren mit seinem Sohn hier ist und sich darum bemüht, seine Familie aus Kabul rauszubekommen, erzürnen sie: „die wollten noch die DNA“, das müsse zukünftig unbürokratischer gehen.
Pfarrerin Harzke äußert: „Die inhumane Praxis des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge zeigt sich daran, dass noch vor wenigen Wochen Menschen nach Afghanistan abgeschoben wurden und man Afghanen, die schon länger in Deutschland leben und hier integriert sind, immer wieder mit Abschiebung drohte.“ Das sei trotz aller Warnungen von Fachleuten geschehen, sagt die Theologin und verweist auf die Stellungnahme der Diakonie Hessen und der EKHN vom 19. August 2021: „Nichts ist gut in Afghanistan“.